Vom Infektionshotspot Ischgl im März über die sommerliche Corona-Atempause an Seen und auf Almen bis zum Bibbern um den Wintertourismus im Herbst: Die Alpen sind dieses Jahr mehr denn je in den globalen Nachrichten. Ganz abgesehen von den gesundheitlichen Aspekten wurde einmal mehr deutlich, dass die Berge alles andere als abgelegen und einsam sind. Sie sind eingebunden in ein dichtes transnationales Netzwerk: Züge, Flüge, Warentransporte, Informationen, Viren.

Die Alpen waren schon immer eine Produktionsmaschine, eine Region des Wirtschaftens. Oben werden dem Berg und der Witterung Erträge abgerungen, unten pulsiert der Transit. Das Inntal, die Lombardei und die halbe Schweiz sind städtische Agglomerationen mit Outlets und Office-Parks. Das Romantische und Unberührte der alpinen Landschaft war schon immer ein Konstrukt eines Tourismus, der selbst zur Industrie wurde. Dröhnend und millionenschwer walzt sie schröcksnadelig, kitzlochhaft und unbeirrt weiter, allen Ökolabels zum Trotz. Währenddessen rutscht die Erde, zerbröselt der Stein, schwinden die Gletscher dahin.

Aus den Alpen, in den Alpen, für die Alpen: mit dem Constructive Alps Award ausgezeichnete Bauten, die sich regionaler Materialien und Techniken bedienen. Landwirtschaftliches Zentrum St. Gallen (1. Preis)...
Foto: Seraina Wirz

Dauerhaft und intelligent

Es ist dieses Spannungsfeld, in dem vor etwas mehr als zehn Jahren die Notwendigkeit für den Constructive Alps Award konstatiert wurde, der gestern, Freitag, zum fünften Mal verliehen wurde. 2009 hatten die Staaten der Alpenkonvention – Slowenien, Österreich, Deutschland, Liechtenstein, Schweiz, Italien, Monaco und Frankreich – beschlossen, die Alpen zu einer Modellregion des Klimaschutzes zu entwickeln. Der mit 50.000 Euro dotierte "Internationale Preis für nachhaltiges Sanieren und Bauen in den Alpen" versteht sich als Beitrag zu diesem Klimaplan. Er zeichnet das Dauerhafte und Intelligente aus – was nicht bedeutet, dass es nicht auch um Schönheit gehen darf.

Konstruktive Alpen: Das ist an sich schon fast ein Pleonasmus. Denn alpine Bautraditionen entstanden aus konstruktiven Anforderungen heraus. Häuser und Stadel mussten Schnee, Eis, Feuchtigkeit, Wind, Kälte und Hitze widerstehen, es musste darin und rundherum gewohnt und vor allem gearbeitet werden. Trockene Tiere, trockene Menschen, trockenes Heu. War etwas schadhaft, wurde es sorgfältig instandgesetzt.

Kein Zufall also, dass das Sanieren eine zentrale Kategorie des Preises ist. "Würde, was in den Alpen an Gebäuden steht, so repariert, wie es das breite und bunte Panorama der Sanierungsprojekte zeigt, wäre das halbe Fuder Heu schon im Schober", schrieb der Schweizer Publizist Köbi Gantenbein, Miterfinder und Juryvorsitzender des Preises, anlässlich der Verleihung 2015. "Klimaschützendes Leben ist machbar, es ist schön, es ist lebensfroh, und es ist auch zahlbar."

Für die Jury dürfte die Auswahl der Preisträger ein Luxusproblem darstellen, denn der alpinen Baukultur geht es so gut wie lange nicht, die Qualität ist in nahezu allen Regionen stetig angestiegen, nicht nur im Musterland Vorarlberg mit seiner stets weiter perfektionierten Handwerkskultur. Auch die Bauaufgaben haben sich in Richtung Konstruktion und Reparatur diversifiziert: die Wiederbelebung ausgestorbener Dorfkerne, die Restaurierung von Stadeln in präziser Kleinarbeit, Orte für sanften Tourismus – und immer wieder: Stätten der Produktion.

...Kapelle Kendlbruck im Lungau (Anerkennung)...
Foto: Albrecht Schnabel

Stadel, Scheune, Hochhaus

Auch die 328 Einreichungen des Jahrgangs 2020 decken die ganze Bandbreite ab, 28 von ihnen schafften es auf die Shortlist. Ein Kindergarten in Südtirol und eine Kulturhalle in Frankreich als neue Bausteine der Dorfkerne. Ein Stadel in Hohenems, eine Scheune in Slowenien, ein Bauernhaus in Bayern wurden – in einer Zeit, da solche Bauten immer noch oft gedankenlos abgeräumt werden – mit Detailkenntnis restauriert, im Tessiner Ort Mosogno Sotto platzierten Buchner Bründler Architekten in einem ruinös-archaischen Landhaus wenige punktuelle Eingriffe, eine wuchtige Arte Povera von felsiger Härte.

Das eine Ende des Spektrums, zumindest was die landschaftliche Lage und den Maßstab betrifft, markiert das zwölfgeschossige Wohnhaus Le Solaris in der französischen Großstadt Grenoble mit 38 Wohnungen, Schafwolledämmung und Holzfassade (Roda Architectes). Das andere die vergleichsweise winzige Kapelle Kendlbruck im Lungau, ein schlichtes, heuschoberhaftes Dreieck, errichtet in Selbstbauweise und entworfen vom Salzburger Architekturbüro Dunkelschwarz, das bereits auf Erfahrung mit Alpinem, Hölzernem und Preisgekröntem verweisen kann.

Elf dieser Nominierten wurden schließlich ausgezeichnet: drei Hauptpreise, sieben Anerkennungen und erstmals ein Publikumspreis. Auf dem Siegerpodest landete ein Bau, der die Alpen als produktive und technische Landschaft perfekt widerspiegelt: das Landwirtschaftliche Zentrum Salez im Kanton St. Gallen von Architekt Andy Senn. Ein ruhiges Ensemble aus Schule und Werkhof, langgestreckt im Talboden liegend. Ein Gebäude, das überzeugt, so die achtköpfige Jury, "weil es das Prinzip Low-Tech, eine möglichst einfache Bauweise für lange Lebensdauer, konsequent und intelligent durchzieht".

...und Kongresszentrum Agordo, Italien (Publikumspreis).
Foto: Simone Bossi

Österreichischer Holzbau

Der zweite Preis ging an einen etablierten und wichtigen Akteur des österreichischen Holzbaus: die Zimmerei und Tischlerei Kaufmann im vorarlbergischen Reuthe, genau gesagt an die von Johannes Kaufmann geplante Montagehalle, eine Kombination aus Betonstützen und Holzfachwerk – sie "steht für höchste Holzbaukunst aus den Alpen", so die Jury. Den dritten Preis vergab die Jury an die Sanierung eines Gasthauses des Glarner Architekten Hans Leuzinger von 1931, eine Ikone der Moderne in den Alpen auf 1772 Metern Seehöhe.

Auf den ersten Blick mag einigen dieser Bauten das Spektakuläre fehlen, doch wäre dieses auch nicht im Sinne der Preiserfinder. Es sind solide und durchdachte Bauten, bei denen es nicht um Fassadenkosmetik geht. Ihre Schönheit liegt in der Dauerhaftigkeit. Der Berg ist eben kein Museumsdorf, sondern eine ewige Baustelle, geprägt von elementaren Kräften und wirtschaftlichen Interessen. Das verlangt von der Architektur eine Widerstandsfähigkeit, die den Klimawandel aushält, die dessen Schäden begrenzt und die die Landschaft respektiert. Und die vermutlich auch den Wintersport in seiner jetzigen Form überleben wird. (Maik Novotny, 8.11.2020)