"Wien hat gezeigt, dass es dem Terror nicht klein beigibt und in paralysierende Angst oder blinde Wut verfällt", so die Extremismus- und Terrorismusforscherin Julia Ebner im Gastkommentar. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Nina Scholz: "Die unterschätzte islamistische Ideologie".

Bisher war die Terrorgefahr in Österreich eine rein abstrakte, jetzt ist sie konkret geworden. Es war ein Glück, dass Österreich die schrecklichen Szenen, die wir lange nur aus den Medien kannten und mit Pariser Lokalen, Berliner Weihnachtsmärkten und Londoner Brücken in Verbindung brachten, bisher erspart geblieben sind. Nach dem ersten Anschlag, der direkt auf Wiens Herz abzielte, sitzt der Schock tief. Und dennoch: Richtig überrascht ist niemand, der die Gefährdungslage der letzten Jahre mitverfolgt hat.

Herausforderung Deradikalisierung

Österreich hat im internationalen Vergleich eine äußerst hohe Zahl an islamistischen Gefährdern. Im Jahr 2016 lagen österreichische IS-Kämpfer relativ zur Bevölkerung zahlenmäßig an zweiter Stelle im gesamten europäischen Raum – direkt nach Belgien. Zwischen 230 und 300 Österreicher hatten das Land verlassen, um sich dem IS in Syrien und im Irak anzuschließen. Mindestens 70 davon sind zurückgekommen. Dazu kommen jene Jihadisten, die sich dem IS anschlossen, aber von einer Reise ins Kalifat abgehalten wurden, wie der Attentäter in Wien. 2019 wurden in Österreich 43 Personen wegen islamistischer Terroraktivitäten verhaftet. Schon damals war klar: Ihre Deradikalisierung in den österreichischen Gefängnissen wird eine gewaltige Herausforderung.

Nach Terroranschlägen wird gerne mit dem Finger in unterschiedlichste Richtungen gezeigt. Wo soll man bei uns in Österreich anfangen? Deradikalisierungsprogramme, die nicht funktionieren? Sicherheitsbehörden, die in der Überwachung versagt haben? Kommunikation, die an den nationalen Grenzen gescheitert ist? Klar: Die Schwächung des BVT und die systematische Dämonisierung von Muslimen durch die FPÖ waren bestimmt eine toxische Kombination für die Terrorprävention. Auch wenn erste Hinweise suggerieren, dass man vermutlich Deradikalisierungsprogramme überarbeiten, den Apparat der Sicherheitsbehörden stärken und bei Lösungsvorschlägen seitens der FPÖ am besten weghören sollte, bringt die Sündenbocksuche am Ende mehr Ärger als Aufklärung. Das Problem ist viel komplexer, als Schuldzuweisungen es erlauben würden. Vor allem aber erfordert es mehr Zusammenhalt und bessere Kommunikation, nicht weniger.

Extremisten wollen Spalten

Aus meinen Undercover-Recherchen in jihadistischen und rechtsextremen Kanälen weiß ich, dass Extremisten immer Überreaktionen in der Politik und Gesellschaft verursachen wollen. Terroranschläge sind darauf angelegt, uns als Bevölkerung einzuschüchtern, in die Knie zu zwingen und zu spalten. Terror ist auch immer Theater. Es geht darum, mit einer möglichst groß angelegten Inszenierung Aufmerksamkeit zu generieren und tiefe Emotionen zu erzeugen. Doch was wir vergessen, ist, dass wir alle auch zu Statisten in diesem Theater werden. Wenn wir uns das aber nicht gefallen lassen, also nicht mitspielen, dann gelingt der Terrorakt nur insofern, als dass er Menschen auf grausame Art und Weise das Leben nimmt. Aber er hat damit nicht seinen eigentlichen Zweck erfüllt: unsere demokratischen, menschenrechtsbasierten Prinzipien ins Wanken zu bringen.

Best Practice

Wien hat gezeigt, dass es dem Terror nicht klein beigibt und in paralysierende Angst oder blinde Wut verfällt. Straßenbahnfahrer, die während des Terrorabends außerhalb der Station anhielten, Hotels, die gratis Menschen unterbrachten, und Polizisten, die sich als menschliches Schild vor schwangere Frauen stellten, bewiesen gerade in Wiens schwersten Stunden Mut und Solidarität. Auch die Kooperation der Bevölkerung mit den Sicherheitskräften könnte man als internationales Best Practice bezeichnen: die 20.000 Videos, die Augenzeuginnen und Augenzeugen an die Behörden sendeten, sind eine rekordverdächtige Leistung, die ohne Zweifel zu den schnell voranschreitenden Ermittlungen beigetragen hat. Und das jetzt weltberühmte #SchleichDiDuOaschloch ist doch ein klares Statement, das nicht nur den Wiener Charme ausstrahlt, sondern auch noch mehr Resistance in sich trägt als die Hashtags #JeSuisCharlie, #PrayForLondon, #TodosConBarcelona und #HanauWarKeinEinzelfall.

Gedenken an die Opfer des Terroranschlags am Donnerstagabend in der Wiener Innenstadt.
Foto: APA / Helmut Fohringer

Vernünftige Rhetorik

Sogar die Rhetorik von Bundeskanzler Sebastian Kurz und Innenminister Karl Nehammer war unerwartet vernünftig und beruhigend. Mit ihrem Plädoyer gegen gesellschaftliche Spaltung haben sie klargemacht, dass sie aus jenen Fehlern gelernt haben, die Politiker in anderen Ländern nach Terroranschlägen gemacht haben. In Reaktion auf jihadistische Attentate die gesamte muslimische Bevölkerung unter Generalverdacht zu stellen oder den Islam mit Islamismus zu verwechseln wäre fatal. Denn gerade wenn sich Muslime ausgeschlossen und diskriminiert fühlen, lassen sie sich leichter in die islamistische Szene rekrutieren. Den Kampf zwischen Muslimen und Nichtmuslimen anzukurbeln ist genau das, was Terroristen wollen.

Hut ab, Wien!

Auf politischer Ebene muss man noch abwarten, ob sich die Worte der Regierung auch in entsprechende Taten verwandeln. Es ist eine Grundsatzentscheidung: Gibt man dialogfördernden, präventiven Maßnahmen Priorität oder setzt man auf drakonische Maßnahmen, die die Freiheitsrechte einschränken? Die von Nehammer und Ministerin Susanne Raab angekündigte Schließung der beiden Moscheen, die der Täter besucht hat, ist legitim, solange man nicht beginnt, wahllos islamische Vereine und Moscheen aufzulösen, die keine derart radikalen Tendenzen zeigen.

Insgesamt kann man jetzt aber sagen: Hut ab, Wien! So eine menschliche Reaktion nach unmenschlichen Taten ist alles andere als selbstverständlich. Wenn Terror das Schlimmste in Menschen hervorbringen soll, so hat es in unserem Fall doch genau das Umgekehrte bewirkt. (Julia Ebner, 7.11.2020)