Minuten des Schreckens. Nach ihrem Eintreffen am Schwedenplatz sperren die Einsatzkräfte die Wiener Innenstadt großräumig ab.

Foto: EPA / Christian Bruna

Um kurz vor acht drücken Sebastian*, Christoph* und Ferdinand* ihre Zigaretten in den Aschenbecher. Sie stehen vor einer Bar schräg vor der Ruprechtskirche. Eigentlich wollten sie draußen sitzen, aber da war nichts mehr frei. Drinnen gibt es nur einen Tisch, an dem drei Leute Platz haben – es ist der letzte ganz hinten im Eck vor den Klos. Die drei Studenten gehen hinein und setzen sich. Sie können ja bald wieder eine rauchen gehen; was soll’s, denken sie sich.

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Zum ersten Mal seit Monaten sind die drei Freunde im Bermudadreieck, der berühmt-berüchtigten Wiener Partymeile hinter dem Schwedenplatz. Normalerweise treffen sie sich in ihrem Vereinslokal, das nur wenige Gehminuten entfernt liegt. Aber es ist dieser ungewöhnlich laue Novemberabend, der sie, wie viele andere, hinauslockt – am Tag vor dem Lockdown.

Täter in der Nähe

Der Attentäter befindet sich zu dieser Zeit – nach allem, was wir bisher wissen – etwas mehr als hundert Meter von ihnen entfernt. Vermutlich steigt er gerade aus einem Auto. Mit der U-Bahn ist er jedenfalls nicht gekommen, da sind sich die Behörden recht sicher.

Christoph will ein Video herzeigen. Es pumpert. Eine Barschlägerei, denkt Sebastian, da muss gerade jemand einen Stuhl zertrümmert haben. Dann noch einmal. Und noch einmal. "Es klang wie ein Bass, heftig, aber dumpf", erinnert sich Ferdinand. Er ist Milizsoldat.

Der zwanzigjährige Terrorist, in Wien aufgewachsen, läuft über den Desider-Friedmann-Platz, benannt nach dem ersten zionistischen Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wiens. Die ersten Schüsse fallen dort. An einem der Häuser hängt eine Gedenktafel: "Am 29. August 1981 (29. Av 5741) starben an dieser Stelle die IKG-Mitglieder Nathan Fried s. A. und Sarah Kohut s. A. durch Kugeln palästinensischer Terroristen."

Die Jerusalemstiege führt vom Friedmann-Platz zum Fleischmarkt. An ihrem Fuß wird das erste Todesopfer zu Boden gehen – ein nur 21 Jahre alter Österreicher mit nordmazedonischen Wurzeln, so wie sie auch der Täter hat.

Zuflucht suchen

Um die Ecke hat Guy Perlaki seine Buchhandlung. Er hört ein Knallen und geht vor die Tür. Nachbarn rufen aus dem Fenster: "Hier schießt jemand scharf!" Er schließt ab. Kurz ist nichts mehr zu hören. Perlaki legt sich auf den Boden hinter seinem Tresen. Er wird dort die ganze Nacht verbringen.

In der Bar, in der Sebastian, Christoph und Ferdinand sitzen, fliegt die Tür auf. Menschen laufen hinein, an ihnen vorbei und zu den Toiletten. Manche versuchen sich darin einzusperren, aber es ist zu gedrängt. "Da schießt einer", schreit eine Frau. "Ich dachte an Böller", sagt Ferdinand.

Ein Mann neben ihnen zeigt auf seinen Arm. "Scheiße, der ist gebrochen", krächzt er. Unter ihm sammelt sich schon eine Blutlache. "Der Arm war nicht gebrochen, der wurde viermal durchschossen", erzählt Christoph. "Selbst da war mir noch nicht klar, was auf uns zukommt."

Draußen in der Judengasse schießt der Täter derweil wahllos um sich. Im Lokal nebenan trifft er eine 24-jährige Kunststudentin und Kellnerin aus Deutschland tödlich.

Einschusslöcher in Wänden und Fenstern von Lokalen rund um die Tatorte zeugen von den Gräueln des Montagabend.
Foto: Christian Fischer

Etwa zu dieser Zeit ist Julia* auf dem Weg nach Hause – in Richtung Desider-Friedmann-Platz. Ein Nachbar scheucht sie davon. "Der hat an diesem Tag vielen das Leben gerettet", sagt sie. Sie läuft in Richtung Stephansplatz und findet dort in der Wohnung ihres Onkels Zuflucht.

Judith* hat in der Judengasse ihre Boutique. Als der Attentäter an ihrer Ladentür vorbeigeht, ist sie zu Hause – bekommt die Tatortszenerie aber dennoch mit: Auf Facebook findet sie einen Livestream mitten aus dem Geschehen. Jemand hat während des Anschlags zu filmen begonnen. Wenige Minuten später ist das Video von der Plattform verschwunden.

Der Täter ist aufmagaziniert: eine Art Kalaschnikow, eine Pistole, eine Machete, ein Sprengstoffgürtel, der sich später als Attrappe herausstellen wird, und ein ganzer Sack voll Munition. Der Sicherheitsanalytiker und Profiler Malte Roschinski spricht von einer "gefestigten Täterpersönlichkeit", die erkennbar sei – vor allem aufgrund seiner langjährigen Treue zu jihadistischen Überzeugungen.

Ein Kellner beobachtet den Attentäter dabei, wie er von der Judengasse in die Seitenstettengasse einbiegt. Das deckt sich mit den bisherigen Ermittlungsergebnissen. In der Straße befindet sich der Stadttempel, die Hauptsynagoge Wiens. Die drei Studenten Sebastian, Christoph und Ferdinand hatten kurz nach sieben bei einer Zigarette beobachtet, wie Wachebeamte der jüdischen Einrichtung ihren Dienst beenden. Also nicht ganz eine Stunde davor.

Die drei Studenten Sebastian, Christoph und Ferdinand wollen unerkannt bleiben. Zwei von ihnen kehrten zum Tatort zurück.
Foto: Regine Hendrich

Ruf aus dem Fenster

Auf einer Videoaufnahme ist zu sehen, wie der Terrorist die Seitenstettengasse entlanggeht. Eine Frau steht allein vor einem Lokal, er eröffnet das Feuer, sie sinkt zu Boden. Er läuft an ihr vorbei, kehrt aber wenige Meter weiter vorn wieder um und schießt mit einer Pistole. Die 44-jährige Österreicherin wird später im Krankenhaus versterben.

In der Seitenstettengasse stehen schon einige Bewohner an ihren Fenstern. Viele filmen. Von oben geben sie Hilfestellung, rufen Menschen unten zu, dass sie davonlaufen sollen. Ein Anrainer schreit dem Terroristen hinterher: "Oaschloch!" Es wird der Inbegriff des Anschlags von Wien werden. Der vielzitierte Satz "Schleich di, du Oaschloch" ist dort aber vermutlich nicht gefallen – zumindest gibt es dafür keine Belege.

Versuchte Ausreise

Der Attentäter, weiß gekleidet von Kopf bis Fuß, schwarze Schuhe, Maske, kehrt noch einmal um – und läuft wieder in Richtung Rabensteig. Er wurde in Mödling bei Wien geboren. Seine Eltern sind einfache Angestellte, der Vater Gärtner, die Mutter im Einzelhandel. Er hat eine jüngere Schwester. Die Eltern stammen aus dem nordmazedonischen Ort Čelopek nahe der Stadt Tetovo.

Nach der Volksschule besuchte er vier Jahre lang die Hauptschule, dann ein Jahr die Mittelschule, bis er schließlich an eine HTL in Wien wechselte. Er sei ein unauffälliger Schüler gewesen, sagt der Direktor. Es habe keine Probleme mit ihm gegeben. Nur seine schulischen Leistungen waren nicht die besten. Als er eine Nachprüfung versäumte, brach er ab. Das war vor zwei Jahren. Lehrer, die ihn unterrichtet haben, können sich heute kaum mehr an ihn erinnern.

Der Täter biegt ab Richtung Schwedenplatz. Vor einem asiatischen Lokal ist ein Restaurantbesitzer gerade dabei, sich und seine Gäste in Sicherheit zu bringen. Er will noch schnell die Tür absperren. Als er beim Eingang steht, visiert der Terrorist ihn an. Acht Einschusslöcher hat die gläserne Tür zum Lokal. Der 39-jährige Österreicher ist das vierte Todesopfer.

Geld aus einem Ferialjob

Eine Rose in einem Einschussloch als Symbol dafür, dass der Hass nicht siegen darf, sondern der Zusammenhalt.
Foto: AFP / Joe Klamar

Mit einem Freund aus der HTL versuchte der Wiener Attentäter schon im August 2018 nach Kabul, der Hauptstadt Afghanistans, zu fliegen, um sich dort der Terrormiliz IS anzuschließen. Das Geld dafür hatte er aus einem Ferialjob. Erst als sie das Ticket schon hatten, erkannten die beiden, dass sie ein Visum bräuchten. Am 1. September flog der spätere Täter dann alleine in die Türkei und blieb dort in einer Unterkunft des IS. Doch die türkische Polizei forschte ihn aus, nahm ihn fest und schickte ihn zurück – nach Österreich.

Im späteren Prozess vor dem Straflandesgericht Wien erklärte er, dass er durchaus bereit gewesen wäre, für den IS zu sterben. "Und was haben Sie vom IS erwartet?", fragte der Richter. "Ich habe mir ein besseres Leben erwartet. Eine eigene Wohnung, ein eigenes Einkommen."

Vertrautes Geräusch

Zu seiner Persönlichkeit hielt das Gericht fest, dass er bei Gesprächen mit der Jugendgerichtshilfe "aufgeschlossen und zugänglich" sei. "Er wirkte sehr belastet, aber durchaus reflexionsbereit und kognitiv gut strukturiert. Er negierte zwar jegliche Radikalisierungstendenzen, jedoch konnte nach wie vor ein erhöhtes Interesse am IS nicht gänzlich ausgeschlossen werden." Schließlich wurde er am 12. Juli 2019 wegen der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung und kriminellen Organisation zu 22 Monaten Haft verurteilt. Am 5. Dezember 2019 kam er vorzeitig frei.

Nicht ganz elf Monate später steht Miro Grujić in seinem Weinlokal inmitten des Tatgeschehens. Seine Gäste glauben zuerst, es würden Silvesterknaller geschossen. "Ich nicht", sagt er. In Bosnien, seiner alten Heimat, wurde er mit dem Geräusch, das eine Kalaschnikow abgibt, vertraut. "So etwas vergisst man nicht." Er geht zur Tür. Von der Schwelle aus sieht er in der Ferne den Attentäter, der auf und ab geht. "Eigenartig war, dass man keine Schreie gehört hat", sagt Grujić. "Alle Leute sind sofort in den Lokalen verschwunden."

Ausharren im Keller

Die Studenten Sebastian, Christoph und Ferdinand werden in den Erdkeller des Lokals getrieben. Ein Kellner hat sich geistesgegenwärtig den Schlüssel geschnappt und aufgesperrt. Fast dreißig Menschen verstecken sich darin. Zusperren werden sie nie. Einer wartet vor der Eisentür und steht Schmiere – und schaut, ob vielleicht noch jemand auf der Flucht hineinmöchte. Die anderen beginnen sich im Keller zu organisieren, die Verletzten auf die eine Seite; wer sich gerade nicht in der Lage fühlt zu helfen, auf die andere. Der Rest beginnt mit der Wundversorgung. "Fünf waren verletzt, vier schwer verletzt", erzählt Christoph.

Mit Holzstücken und zerrissenen Shirts seien erste Druckverbände angelegt worden. Ferdinand hatte beim Heer noch eineinhalb Wochen zuvor eine Übung, wie man Schusswunden erstbehandelt. Mit Gürteln werden Gliedmaßen abgeschnürt, damit die Blutung abnimmt. Der Lokalbesitzer bringt Cola und Limo. "Wir haben funktioniert wie ein eingeschworenes Team", sagt Sebastian.

Das Gesetz sieht die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung nach der Hälfte oder zwei Dritteln der Haftzeit vor, wenn anzunehmen ist, dass der Betroffene nicht mehr straffällig wird. Im Fall des Wiener Attentäters wurde eine bedingte Freilassung nach zwei Dritteln der Haftzeit genehmigt. "Er bereue seine Taten, sei damals noch jung gewesen und habe vor, seine Zukunft mit einer Arbeit in richtige Bahnen zu lenken", heißt es in dem Beschluss.

Am Dienstagabend fand
in der Innenstadt eine Mahnwache für die Opfer statt.
Foto: Regine Hendrich

Die Probezeit wurde auf drei Jahre festgesetzt. So lange sollte er sich regelmäßig mit einem Bewährungshelfer treffen und an einem Deradikalisierungsprogramm teilnehmen. Hätte er die gesamte Haftstrafe verbüßt, wäre er im Juli 2020 freigekommen – allerdings ohne jegliche Auflagen und weitere Beobachtung.

Verletzter Beamter

Der spätere Täter habe alle Vorgaben eingehalten, sagt Andreas Zembaty, der Sprecher von Neustart, jenem Verein, der sich um die Bewährungshilfe kümmerte. Zur letzten Sitzung bei der Deradikalisierungsstelle Derad erschien er am Donnerstag vor dem Anschlag. Das letzte Treffen mit seiner Bewährungshelferin war am 21. Oktober.

Zwölf Tage später, kurz nach 20 Uhr, läuft er über den Schwedenplatz. Es kommt zum ersten Schusswechsel mit der Polizei. Dabei trifft er einen Beamten, der vor einem Schnellimbiss niedergeht. Drei Burschen werden ihn schließlich zum Krankenwagen tragen.

Einer von ihnen ist Osama Joda, dessen Familie schon einmal Schlagzeilen machte. Der Bürgermeister im niederösterreichischen Weikendorf wollte aufgrund ihrer palästinensischen Herkunft verhindern, dass die Familie in seinem Ort ein Grundstück erwirbt – mittlerweile haben sie es. Und der Polizist ist außer Lebensgefahr.

Die Innere Stadt ist inzwischen im Aufruhr, Polizeiwagen, Blaulicht, Sirenen. Antonia, eine italienische Austauschstudentin, isst gerade in einem Fastfood-Lokal in der Nähe des Schwedenplatzes, als draußen die Schüsse zu hören sind. "Während auf der Straße alle Menschen nach Schutz in Restaurants gesucht haben, haben uns die Kellner einfach auf die Straße gesetzt und rausgeschmissen", erzählt sie. Panisch drücken Antonia und ihre Freunde bei den umliegenden Wohnhäusern die Klingeln. Es macht niemand auf. Schließlich wird sie von den Kellnern eines anderen Lokals hineingelassen. Dort versteckt sie sich für viele Stunden.

Trauer ist, was von den Ereignissen bleibt.
Foto: APA / Helmut Fohringer

Sein und Schein

"Als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, war er perspektivenlos", sagt Zembaty vom Verein Neustart, dem der Täter zu Bewährungshilfe zugeteilt war. Er hatte keinen Job, eine Vorstrafe und lebte wieder bei seiner Mutter, mit der er oft in Konflikt geriet. "Eine sehr nette, westlich eingestellte Frau", sagt der Anwalt Nikolaus Rast, der ihn 2019 verteidigte, über sie.

Die Bewährungshelferin half dem 20-Jährigen, einen Job zu finden. Anfang des Jahres zog er in eine Gemeindewohnung im 22. Bezirk. Die Sozialarbeiterin arbeitete auch daran, seine Ideologie aufzubrechen. "Er wirkte geläutert", sagt Zembaty. Als die Bewährungshelferin mit ihm über die Enthauptung des französischen Geschichtelehrers Samuel Paty sprach, soll er von sich aus gesagt haben: "Selbst die Beleidigung des Propheten rechtfertigt nicht den Mord an einem Menschen." Dennoch betont Zembaty: "Wir haben ihn nie als nicht mehr gefährlich eingeschätzt."

Um 20.09 Uhr wird der Attentäter am Ruprechtsplatz, unter dem Plateau, auf dem die Kirche steht, von einem Wega-Beamten erschossen. Innenminister Karl Nehammer wird wenige Stunden später verkünden, dass vom ersten Notruf bis zu seinem Tod nur neun Minuten vergangen sind. Am Ruprechtsplatz wird der Täter bäuchlings noch lange liegen, bis das Bombenteam Entwarnung gibt.

Im Erdkeller in der Judengasse wählt Sebastian die Nummer der Polizei, aber er kommt nicht durch. Er ruft bei der Rettung an, dort wird ihm gesagt, man wisse schon Bescheid. Er gibt trotzdem Adresse und Angaben zu den Verletzten durch.

Hunderte Helden

Der Keller ist heiß und stickig, die Luft ist schlecht, dreißig Menschen, fünf mit Blutverlust. Im Nachhinein wundern sich die drei Studenten, wie unglaublich gefasst alle in dieser Situation waren: Niemand habe geschrien, keiner Panik verbreitet, alle hätten zusammengeholfen. "Dieser Abend hat hunderte Helden hervorgebracht", sagt Sebastian.

Nach einiger Zeit beschließt die Gruppe, in den Innenhof des Hauses zu übersiedeln. Für die Verletzten werden dort Decken aufgelegt. Anrainer werfen Tischtücher, Laken und Verbandszeug aus den Fenstern. Auch eine Ärztin, die in dem Haus wohnt, hilft schließlich mit. Die genauen Zeiten verschwimmen in der Erzählung der Studenten. Aber etwa dreißig Minuten nach den Schüssen seien die ersten Cobra-Beamten bei ihnen gestanden. Noch eine halbe Stunde später waren Rettungskräfte vor Ort – davor sei die Gefahrenlage zu unklar gewesen, um sie durchzulassen, wird ihnen gesagt.

Die Polizei geht zu dieser Zeit noch davon aus, dass weitere Täter flüchtig sind – und von einem Tatort am Graben, der sich als falsch entpuppen wird. Ein Verletzter hatte sich bis dorthin geschleppt, das hatte die Verwirrung ausgelöst.

Eingebettet in ein Netzwerk

Schlussendlich wird feststehen: Der Attentäter hat die Tat allein ausgeführt.
Foto: AFP / Joe Klamar

Schlussendlich wird feststehen: Der Attentäter hat die Tat allein ausgeführt. Ein "Lone Wolf"-Anschlag ist es dennoch nicht. Der Terrorist war offenbar eingebettet in ein Netzwerk radikalisierter Islamisten. Und wie so viele Extremisten und Terroristen der vergangenen Jahre sind auch sie alle nicht älter als dreißig.

Es ist eine Szene, deren Gefährlichkeit in Österreich immer wieder "auf naive Art und Weise" unterschätzt wird, wie ausländische Sicherheitsexperten sagen. Der Attentäter fuhr im Juli 2020 in die Slowakei, wollte dort illegal Munition kaufen und wurde von den Behörden beobachtet. Diese leiteten die Informationen an den österreichischen Verfassungsschutz weiter – der berichtete jedoch nicht an die Justiz.

Der Profiler Roschinski geht davon aus, dass der Täter nur eine grobe Vorstellung einer Route im Kopf hatte, entlang derer er seine Tat vollziehen wollte. Falls er einen exakten Plan hatte, wurde dieser aufgrund der "taktischen Dynamik" wohl über den Haufen geworfen. Dennoch: Viele Straßen und Denkmäler entlang seines Weges haben einen klaren Bezug zum Judentum.

Als die Verletzten aus der Gruppe im Innenhof abtransportiert sind, werden die Polizisten wieder aktiv, erinnern sich Sebastian, Christoph und Ferdinand. Ein Polizist habe alle aufgefordert, sich im Innenhof aufzustellen und die Hände hochzunehmen.

Ein Beamter will den Erdkeller durchsuchen. Der Kellner muss ihm aber erst helfen, das Licht dort einzuschalten. Als beide zurückkommen, hat der Polizist den Stahlhelm abgenommen und eine Steige Jägermeister unter dem Arm. "Könnt ihr jetzt brauchen."

Ausharren im Hof

Die drei Studenten werden bis nach zwei Uhr morgens im Hinterhof in der Judengasse ausharren. Dann werden sie von der Polizei über eine Brücke in den zweiten Bezirk begleitet. "Dort haben sie uns einfach stehen lassen und gemeint, es wird schon ein Taxi kommen", erzählt Christoph.

Bei dem Anschlag am Montag wurden vier Zivilisten und der Täter getötet. 22 Menschen wurden verletzt.
Foto: AFP / Omer Messinger

Sie seien überall blutverschmiert gewesen – mehr als zwanzig Leute seien dort herumgestanden und hätten nicht genau gewusst, was sie tun sollen. Manche hätten dann irgendwann ein Taxi gefunden, andere hätten sich abholen lassen.

Zwei Tage später steht auf dem Friedmann-Platz ein Militärpolizist, Camouflage-Maske, schwarze Sonnenbrille, daneben dutzende Polizeibeamte. Einige von ihnen haben Diensthunde an der Leine. Vor ihnen haben sich etwa zwanzig Leute rund um Blumen und Kerzen versammelt. Niemand spricht. Aus dem Nichts ertönt eine Sirene. Einige zucken zusammen.

Vor dem Restaurant Salzamt stehen Tische und Stühle, auf denen niemand sitzt – halbleere Weingläser, eine Flasche steckt in einem Sektkühler. Auf dem Boden liegen Blumen, daneben brennen Kerzen. "In Gedenken an die Betroffenen und ihre Familien", steht auf einem Schild, das an der Wand lehnt.

Beim Stadttempel in der Seitenstettengasse haben sich die Vertreter aller großen und kleinen Religionsgemeinschaften versammelt: der Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister – auch ein Augenzeuge der Tat –, Ümit Vural von der Islamischen Glaubensgemeinschaft, Kardinal Christoph Schönborn. Ein Paar geht langsam vorbei. Die Frau klammert sich eng an ihren Partner. Sie zittert am ganzen Körper, ihre Beine knicken immer wieder ein. Der Mann trägt einen Verband an seiner Hand.

Terror braucht Bühne

Etwas weiter vorn geht eine Frau mit zwei kleinen Kindern den Rabensteig hinunter. Mit einem Taschentuch trocknet sie rasch ihre Tränen. "Mama, warum weinst du?", fragt ihr Kind. "Weil das sehr traurig ist."

Bei dem Anschlag am Montag wurden vier Zivilisten und der Täter getötet. 22 Menschen wurden verletzt. Glücklicherweise verfehlte der Großteil der Projektile aber das Ziel. Anhand der Videos geht Roschinski davon aus, dass der Terrorist keine besondere Ausbildung an der Waffe erfahren hatte. Ein noch kaltblütigerer und besser ausgebildeter Terrorist hätte wohl noch mehr Schaden anrichten können.

Klar ist: Terror braucht immer auch Bühne und Audienz. Schon am Dienstag wäre der Attentäter auf deutlich weniger Leute gestoßen.
Foto: APA / Helmut Fohringer

Und der Zeitpunkt? Ausgerechnet am Tag vor dem Lockdown und dem Schließen sämtlicher Restaurants und Bars? Ausgerechnet an jenem Abend, an dem viele noch ihr letztes Feierabendbier trinken wollten? Ist das Zufall? Schon wenige Stunden nach den Anschlägen glauben erste Analysten, eine Symbolik zu erkennen.

Klar ist: Terror braucht immer auch Bühne und Aufmerksamkeit. Schon am Dienstag wäre der Attentäter auf deutlich weniger Leute gestoßen. Vielleicht hatte er auch eigentlich andere Pläne und war durch den Lockdown gezwungen, schneller zu agieren. In deutschen Sicherheitskreisen kursiere diese Hypothese, sagt Roschinski.

Kollektive Aufarbeitung

Der Lockdown macht die kollektive Aufarbeitung des Terrorakts jedenfalls schwieriger, sagt der Terrorismusexperte Edwin Bakker von der Universität Leiden. "Die Leute wollen nicht herumsitzen, sie wollen etwas machen, Solidarität zeigen." Nun seien sie in den klassischen Ritualen nach so einer Tat eingeschränkt.

Eine der schwierigsten Phasen steht Österreich aber wohl noch bevor: nämlich dann, wenn die erste Runde an Solidaritätsbekundungen, Soforthilfe und medialer Aufmerksamkeit abgeklungen ist. Dann, wenn Ermittlungen sich vielleicht doch wieder verlaufen und andere Themen in den Mittelpunkt rücken. Dann, wenn des Attentats nur noch an den Jahrestagen gedacht wird. Davor warnt etwa das Radicalisation Awareness Network der EU. Denn auch dann gibt es noch Hinterbliebene und Traumatisierte. Für sie wird die Phase des "zweiten Desasters", die der großen Stille kommen – wo sie nicht alleingelassen werden dürfen.

Stundenlange Seelsorge

Die Studenten Sebastian, Christoph und Ferdinand haben sich gleich am Tag nach dem Anschlag Hilfe gesucht – und stundenlang mit einem Seelsorger gesprochen. Inzwischen führen sie wieder Schmäh miteinander, rauchen, trinken gemeinsam ein Bier.

"Dieses Oaschloch hat das Gegenteil davon erreicht, was er eigentlich wollte", sagt Ferdinand. "Wir sind in dieser Nacht zusammengerückt, alle haben geholfen." Sie sitzen in ihrem Vereinslokal im ersten Bezirk, unweit des Tatorts. Christoph zieht an seiner Zigarette: "Ich habe in dieser Nacht viel Glauben an die Menschheit gewonnen." (Vanessa Gaigg, Katharina Mittelstaedt, Johannes Pucher, Fabian Sommavilla, 6.11.2020)