Neuigkeits-Welt-Blatt vom 5. Dezember 1919

Die wissenschaftliche Polizei

Der Polizist von heute arbeitet mit allen Mitteln der modernen Wissenschaft, und er hat die Dichtung, die den gelehrten Detektiv zum Helden so viele Geschichten machte, übertroffen. Über die neuesten wissenschaftlichen Methoden der Polizei hat sich der Direktor des technischen Polizei-Laboratoriums in Lyon, Edmond Locard, in einer vor kurzem erschienenen Abhandlung ausgesprochen. Die Grundlage für den Erkennungsdienst der modernen Polizei ist das Studium der Fingerabdrücke, das sich als das vorzüglichste Mittel für die Entdeckung von Verbrechern erwiesen hat. Einen Irrtum hält Locard bei dieser Methode für fast ausgeschlossen. "Das Erkennen einer Persönlichkeit durch den Fingerabdruck", sagt er, "ist ebenso gewiss wie die Tatsache, dass wir sterben werden". Selbst wenn der Verbrecher Handschuhe anlegt, so hinterlassen auch diese einen Abdruck, durch den man die Persönlichkeit identifizieren kann. Zumeist aber ist der Verbrecher gezwungen, die Handschuhe bei der Ausführung seiner Tat abzulegen.
Wenn Fingerabdrücke fehlen, dann hilft die Untersuchung der kleinsten Einzelheiten weiter. Ein Mord ist begangen worden; keine Spur wird entdeckt. Nach einigen Tagen nimmt man einen Landstreicher gefangen, dessen Jacke Blutflecken aufweist. Bei genauer Untersuchung der Jacke entdeckt man am Ärmel ein Körnchen, das mit dem Mikroskop als von einem Löwenzahn herrührend festgestellt wird. Und zwar stellt sich das Körnchen als zu einer besonderen Art des Löwenzahns gehörig heraus, und gerade von dieser Art stand ein Strauß zwei Schritte von der Leiche des Getöteten. Auf diesen Beweis hin gesteht der Landstreicher den Mord ein.

Auch der Staub, der beim Klopfen aus einem Kleidungsstück herauskommt, kann den Schuldigen überführen. In der Jacke eines Müllers findet man Mehl, in der eines Maurers Gips, in der eines Gelehrten Papierstäubchen der durchblätterten Bücher. Der Mörder lässt bei seinem Opfer seine Jacke zurück. Der Fachmann klopft sie aus und stellt unter dem Mikroskop winzige Holzteilchen fest. Der Schuldige ist also ein Zimmermann oder Tischler. Aber man findet auch kleine Mengen Leim in der Jacke. Es muss also ein Tischler gewesen sein.
Ein Dieb fällt nach vollbrachtem Einbruch durch das Fenster, fällt auf die Knie und hinterlässt Eindrücke in der weichen Erde. Der wissenschaftliche Polizist erkennt, dass er eine Hose aus geripptem Samt trug, deren eines Bein mit einem breiten, gerippten Stück Samt geflickt war. Man hält Umschau unter allen verdächtigen Individuen, die gerippten Samt tragen, und bald ist der Einbrecher festgenommen.

Auch die Zähne haben ihre besonderen Merkmale, wie die Linien des Daumens und die Spuren des Fußes. Eine Bäckerei ist ausgeraubt worden; einer der Übeltäter hat ein Stückchen Kuchen angebissen und liegen gelassen. Der Kuchen rächt sich, indem er die Eindrücke der Zähne so genau wiedergibt, dass der Betreffende danach identifiziert werden kann.
An solchen Beispielen, wie sie Locard zahlreich aufführt, erkennt man die Bedeutung der wissenschaftlichen Polizei.

Fliegende Blätter vom 5. Dezember 1919

Haarkunst

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(Kurt Tutschek, 5.12.2020)

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