Der amtierende US-Präsident fühlt sich betrogen – und hält an seinem Sieg fest.

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Für die Mehrheit der Amerikaner, für die Medien und die wichtigsten politischen Institutionen ist die Präsidentschaftswahl entschieden. Aber nicht für Donald Trump. Der amtierende Staatschef scheint weiterhin überzeugt, dass er die Wahl gewonnen hat und nur durch Wahlbetrug der Demokraten um den Sieg gebracht wird.

Die bisher vorgebrachten Vorwürfe sind fadenscheinig und sollten von den angerufenen Gerichten rasch ad acta gelegt werden. Dennoch gilt es als unwahrscheinlich, dass Trump seine Meinung bis zur Angelobung am 20. Jänner 2021 noch ändert. Er dürfte der erste unterlegene Präsidentschaftskandidat sein, der seine Niederlage nie eingesteht. Das ist demokratiepolitisch höchst problematisch, weil er damit die Legitimität seines Nachfolgers Joe Biden infrage stellt. Allerdings passt das zu Trumps Charakter und erklärt auch, warum er nach vier Jahren abgewählt worden ist – wenn auch knapp.

Mär vom Wahlbetrug

Es könnte auch schlimmer kommen. Wenn Trump die Mär vom Wahlbetrug in den kommenden Wochen weitertrommelt und seine Anhänger davon überzeugt, dann wächst der Druck auf republikanische Funktionäre, dass sie mithelfen, Bidens Amtsantritt zu verhindern.

Die republikanisch dominierten Staatsparlamente in Wisconsin, Michigan, Pennsylvania, Arizona und Georgia, wo Biden mit knappen Mehrheiten gewonnen hat, könnten erklären, dass die Wahl "unheilbar kompromittiert" sei und deshalb sie bestimmen müssen, wer in ihrem Staat der Sieger ist – nämlich Trump. Der Oberste Gerichtshof in Washington könnte dies mit seiner konservativen Mehrheit absegnen. Das wäre das Ende der amerikanischen Demokratie.

Unwahrscheinliches Szenario

Das Szenario ist unwahrscheinlich, aber leider nicht ausgeschlossen. Denn auch bisher haben sich Republikaner wenig um demokratische Usancen geschert, wenn es um den Machterhalt ging. Für viele Abgeordnete ginge es dabei auch ums politische Überleben: Wenn Trump jeden, der nicht bis zuletzt für ihn kämpft, per Tweet zum Verräter stempelt, dann müssen sie Trump-treue Gegenkandidaten in der nächsten Vorwahl fürchten.

Setzt sich dieser Zug einmal in Bewegung, dann liegt es an den Spitzen der republikanischen Partei wie Senatsführer Mitch McConnell oder den Senatoren Lindsey Graham und Ted Cruz, ihn zu stoppen. Um die älteste Demokratie der Welt zu retten, müssten sie nur Biden und Kamala Harris zum Wahlsieg gratulieren. Bisher hat keiner von ihnen das getan. (Eric Frey, 8.11.2020)