Bild nicht mehr verfügbar.

Kamala Harris: "Auch wenn ich die erste Frau in diesem Amt sein mag, ich werde nicht die letzte sein."
Foto: AP / Andrew Harnik

Man könne Menschen nicht in Schubladen sortieren, sagte Kamala Harris, als sie skizzierte, mit welcher Leitmelodie sie in den Präsidentschaftswahlkampf 2020 zu ziehen gedachte. Niemand lebe ein Leben, in dem sich alles wirklich nur um ein Thema drehe, "das man allein durch die Linse eines einzigen Themas betrachten kann". Was die Leute wollten, meinte sie, seien Politikerinnen und Politiker, die sich dessen bewusst seien und der Komplexität jedes einzelnen Lebens gerecht würden. Es waren Sätze, mit denen die Senatorin aus Kalifornien – der Hochburg ihrer demokratischen Partei an der Westküste der Vereinigten Staaten von Amerika – ihren Platz zu finden versuchte in einem Kandidatenfeld, das von Woche zu Woche größer und größer wurde.

Inhaltlich steuerte Harris einen Mittelweg an. Genauer gesagt: Sie positionierte sich leicht links von der Mitte. Allerdings nicht so weit links, als dass sie es geschafft hätte, im Vergleich mit Joe Biden, einem klassischen Vertreter des politischen Zentrums, eine eigene, unverwechselbare Marke zu begründen. Am Ende saß die Senatorin aus Kalifornien zwischen allen Stühlen und schien alle Chancen auf ein Weiterkommen endgültig verspielt zu haben: zwischen den vorsichtigen Reformern der Biden-Fraktion und den radikaleren, weiter links stehenden um den streitbaren Bernie Sanders und die stets energie geladene Elizabeth Warren.

Zunächst nicht genug Profil

Die Tatsache, dass sie in dieser frühen Phase der Positionierung für eine Kandidatur für das Präsidentenamt ihr Profil nicht zu schärfen vermochte, zwang sie dazu, aufzugeben, noch bevor der Kandidatenwettstreit der Demokraten mit dem ersten Kräftemessen bei den Vorwahlen ab Jänner dieses Jahres in die entscheidende Phase ging.

Die Ironie der Geschichte: Gerade weil bei Harris vieles im Ungefähren geblieben war, gerade weil ihre konservativen Gegner sie nicht im Ernst in die Schublade "radikale Linke" einsortieren konnten, gab Joe Biden ihr den Vorzug, als es darum ging, eine Partnerin fürs Finale zu finden. Der oft wiederholte Versuch Donald Trumps, Harris als Revoluzzerin zu charakterisieren, dürfte – bis auf den harten Kern der Anhänger des Präsidenten – aber keine Wählerin und keinen Wähler überzeugt haben. Im Gegenteil: Für manche war es ein Grund mehr, Biden zu wählen, weil erstmals eine Frau mit dunkler Haut für die Vizepräsidentschaft kandidierte.

Wenn es doch so etwas wie eine "Marke Harris" gibt, dann ist es die Betonung des Facettenreichtums, auch in der Politik. Mit ihrer Biografie erinnert sie ein wenig an den Weltbürger Barack Obama. Ihr Vater Donald Harris, Ökonomieprofessor an der Stanford University, stammt aus Jamaika. Ihre Mutter Shyamala Gopalan, eine auf Brustkrebs spezialisierte Ärztin, wurde in Indien geboren, bevor sie mit 19 Jahren in die USA übersiedelte.

Black Panthers und Law and Order

Der Name Kamala stammt aus dem Sans krit und bedeutet Lotusblüte. Als Kind besuchte Kamala Harris Gottesdienste sowohl in einem Hindutempel als auch in einer schwarzen Baptistenkirche. Auf die Highschool ging sie im kanadischen Montreal, wo ihre Mutter eine Zeit lang lehrte. Und Oakland, die Stadt an der Bucht von San Francisco, in der sie aufwuchs, war so etwas wie ein Synonym für die aufgewühlte Stimmung der Sechzigerjahre, eine Hochburg rebellischer Studenten wie auch der Black-Panther-Bewegung. Die Zeit der Studentenproteste, sagt Harris, habe sie aus der Perspektive des Kinderwagens erlebt. Ihre Eltern hätten sie oft mitgenommen zu Kundgebungen auf dem Campus der Universität Berkeley.

Bei den Demokraten hat sie sich gleichwohl des Rufs zu erwehren, wie eine stramme Konservative für "Recht und Ordnung" zu stehen. Von 2004 bis 2010 war sie Bezirksstaatsanwältin von San Francisco, danach wurde sie zur Justizministerin Kaliforniens gewählt, die erste Frau überhaupt auf diesem Posten. Im Umgang mit Kriminalität setzte Harris auf Härte. Beispielsweise kämpfte sie für ein Gesetz, nach dessen Paragrafen die Eltern chronischer Schulschwänzer mit bis zu zwölf Monaten Gefängnis bestraft werden konnten. Die Todesstrafe verteidigte sie auch dann noch, als ein kalifornischer Richter sie 2014 für verfassungswidrig erklärte.

Die Liberalisierung von Marihuana, heute bis weit hinein in die politische Mitte praktisch Konsens, lehnte sie ab. In dem Maße, wie eine Mehrheit der Amerikaner erkennt, dass drakonische Härte nur zu überfüllten Gefängnissen führt, wenn etwa jemand wegen Drogenbesitzes auf Jahre hinter Gitter wandert, wirkt ziemlich anachronistisch, was sie noch unlängst vertrat.

Assoziationen zu Obama

Sie selbst wiederum warnt schon seit längerem davor, den Bogen zu überspannen, wenn man der Law-and-Order-Fraktion mit eigenen Konzepten begegnet. Es stimme nicht, dass man in bestimmten Wohnvierteln etwas gegen die Polizei als solche habe. "Was die Leute allerdings nicht wollen, sind exzessive Gewalt und Racial Profiling." Letzteres steht für ein Rasterdenken, das in jüngeren Schwarzen oder Latinos automatisch Verdächtige sieht. Kamala Harris, die Stimme des Pragmatismus: So zumindest versucht sie es zu inszenieren.

Nicht nur das lässt an Barack Obama denken, den Senkrechtstarter der Wahl 2008. Wie er hat auch sie sich nach nur zwei Jahren im Senat fürs Weiße Haus beworben. Und doch liegt der Fall völlig anders. Als Obama antrat, rügten manche Parteigranden, er hätte abwarten müssen, statt Hillary Clinton, der Gesetzten, die Kandidatenkrone streitig zu machen. Er war damals 45 Jahre alt.

Harris, 56, machte niemand zum Vorwurf, zu früh nach den Sternen zu greifen. Dann wäre da noch, ähnlich wie einst bei Obama, die Frage nach ihrer Identität. Wie sie die als Tochter von Einwanderern beschreiben würde, wurde sie neulich gefragt. Die Antwort: "Ich sehe mich als stolze Amerikanerin." (Frank Herrmann, 8.11.2020)