Xaver Bayer lässt Alltägliches in Albtraumhaftes kippen.

Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Xaver Bayers Erzähler war einkaufen: Camembert und Damenrasierer vom Merkur, ein Computerspiel vom Saturn. Nun fährt er im Lift hoch in die Dachgeschoßwohnung seiner Freundin Marianne. Doch die elf Stockwerke zu überwinden kommt ihm heute länger vor und die Anzeige zählt immer weiter: 17, 18, 19 ... "Seit einem Tag bin ich nun in diesem Lift gefangen, der sich momentan vermutlich irgendwo zwischen dem zehn- und zwanzigtausendsten Stockwerk befindet", kommentiert der Erzähler nach fünf Seiten und einer ersten Panik trocken. Zwei Seiten später, als die Episode unaufgelöst auserzählt ist, fährt der Lift immer noch.

Dies ist eine von 20 Erzählungen in Bayers dieses Frühjahr erschienenem Band Geschichten mit Marianne (Jung und Jung). Die beiden Protagonisten sind seit vielen Jahren ein Paar, gut situiert, kulturbeflissen. Eine jede Geschichte beginnt ganz unspektakulär mit Alltagsdingen einer solchen Beziehung, etwa über einem Filet Wellington, beim Marmeladeeinkochen oder mit einem Besuch im Swingerclub, um auf knappstem Raum in bloß amüsant-kuriose bis gesellschaftskritisch-dystopische Situationen zu kippen. Diese Texte siedeln zwischen Surrealismus und Schauerromantik.

"Melancholischer Witz"

Dafür wurde dem Autor am Montag der Österreichische Buchpreis zugesprochen, wegen der Corona-Pandemie nicht in der üblichen Gala, sondern per Presseaussendung. "Mit bösem, oft melancholischem Witz", lobt die Jury, leuchte Bayer "die Angst-Räume unserer Zeit aus" und betreibe ein "brillantes, facettenreiches Nachdenken" darüber. In einer Geschichte etwa herrscht offenkundig eine Energiekrise, in anderen Erzählungen passiert ein Terrorangriff oder kommt es bei einem Perchtenlauf zu Gewaltszenen. Auch Ausbeutung und digitaler Entfremdung gilt Kritik.

1977 in Wien geboren, lässt Xaver Bayer seit seinem Erstling Heute könnte ein glücklicher Tag sein (2001) immer wieder Flaneure seine Romane und Erzählungen durchwandern, denen dabei entweder wenig oder wenn, dann Unheimliches zustößt. Den frühen Vorwurf der Fadesse muss er sich zwölf Bücher später nicht mehr anhören. Doch ist Bayer nach wie vor ein bedächtiger Autor. Mit nüchterner Sprache zügelt er die Fantastik seiner Stories. Aufgeblasene Sätze mag Bayer genauso wenig wie die ranschmeißerischen Seiten und Protagonisten des Literaturbetriebs. Auch in den Kurztexten von Wildpark (2019) exerziert er seine je von einer kleinen berückenden Idee getragenen Szenen ohne Ablenkungen durch, bis daraus so genaue wie zugleich spielerische Miniaturen werden.

Aus 98 Einreichungen gekürt

Nach Friederike Mayröcker, Eva Menasse, Daniel Wisser und Norbert Gstrein ist Bayer der fünfte Träger des mit 25.000 Euro dotierten Preises für das Werk eines österreichischen Autors im Genre Prosa, Drama, Lyrik oder Essay. Er wurde aus 98 Einreichungen gekürt, ebenso auf der Shortlist standen Monika Helfer (Die Bagage), Karin Peschka (Putzt euch, tanzt, lacht), Cornelia Travnicek (Feenstaub) und Helena Adler (Die Infantin trägt den Scheitel links). In der Kategorie Debütpreis setzte sich Leander Fischer (28) mit dem 800-Seiter Die Forelle durch. In der Jury waren die Literaturkritiker Sebastian Fasthuber und Nicole Henneberg, der Buchhändler Klaus Seufer-Wasserthal und die Literaturwissenschafterin Ulrike Tanzer.

Lesungen mag Bayer nicht, insofern passt es gut, dass er den Buchpreis heuer gewonnen hat. (Michael Wurmitzer, 9.11.2020)