Suu Kyi wird vorgeworfen, sich zu sehr mit dem Militär zu verbrüdern.

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Vor knapp einem Jahr war Aung San Suu Kyi nach Den Haag gereist, um vor dem Internationalen Gerichtshof ihr Land zu verteidigen. Als die Armee Myanmars 2017 gegen die Rohingya vorging, sei es vielleicht zu "unangemessener Gewalt" gekommen, sagte die Friedensnobelpreisträgerin. Aber eine Absicht zum Völkermord, wie es die Uno in einem Bericht ortete, wies sie zurück. 700.000 Angehörige der muslimischen Minderheit flohen in der Folge ins benachbarte Bangladesch. In einem Beitrag für die "Financial Times" mutmaßte sie, ob nicht einige Rohingya das Ausmaß der Misshandlungen "übertrieben haben".

In Myanmar ist Suu Kyi beliebt und hochverehrt: Bei der Parlamentswahl am Sonntag gewann ihre National Democratic League (NDL) zum zweiten Mal mit großer Mehrheit, bei den erst zweiten freien Wahlen seit der Demokratisierung vor rund zehn Jahren. Endergebnisse standen zwar noch aus, aber Suu Kyis Partei zeigte sich am Montag von einem hohen Wahlsieg überzeugt.

Doch im Westen hat sie seit ihrer Performance in Sachen Rohingya stark an Ansehen verloren. Zahlreiche Auszeichnungen wurden ihr aberkannt. Die früheren Suu-Kyi-Fans wundern sich, wie es sein kann, dass eine Friedensnobelpreisträgerin plötzlich mutmaßlichen Genozid im eigenen Land verteidigt.

Falsche Erwartungen

Hinter dem vermeintlich tiefen Fall verbergen sich geplatzte Hoffnungen, zähe Realpolitik – und falsche Erwartungen. Falsche Erwartungen von Suu Kyi selbst, die geplante Reformen von innen nicht durchsetzen konnte, seitdem ihre Partei 2015 das Ruder in die Hand bekam.

Und es stecken falsche Erwartungen von westlichen Beobachtern dahinter, die Suu Kyi in den 1990ern zu einer Figur stilisierten, die eine Demokratie in Idealform nach Myanmar bringen würde. Dass sich hinter dem "Ringen um Demokratie" der Menschen dort ganz eigene, historisch gewachsene Konflikte entsponnen haben, wurde im Westen oft übersehen.

Aung San Suu Kyi wurde 1945 in Rangun geboren, als Tochter von General Aung San. Der General wird bis heute als Wegbereiter eines modernen Burma verehrt, der 1946 die Kolonialmächte vertrieb und das Land in die spätere Unabhängigkeit führte. Suu Kyis Vater wurde 1947 ermordet, seitdem befindet sich das Land fast durchgehend im Bürgerkrieg, zumeist regiert von einer Militärregierung.

Aufstand für mehr Demokratie

1988 kam es zum großen Aufstand gegen die Militärdiktatur. Dabei wurde Suu Kyi, Tochter des gefeierten Nationsgründers, zur Ikone des Wandels, die das Vermächtnis ihres Vaters vollenden solle, analysiert der Historiker Thant Myint-U. Für viele Burmesen war die Armee bloß vom richtigen Weg abgekommen. Suu Kyi sollte das Land wieder "auf den richtigen Pfad bringen", erklärt er in einer Folge des Podcasts "Talking Politics".

Ihr beherzter Einsatz für Wandel und Demokratie brachte Suu Kyi großes internationales Ansehen – gerade in einer Zeit der großen Wende im Westen, während des Falls der Sowjetunion. Im Westen verfestigte sich das Bild über die junge Suu Kyi, die mit vollem Einsatz für Demokratie und Menschenrechte kämpfte. 1991 erhielt sie dafür den Friedensnobelpreis.

Doch die Demokratie, die Suu Kyi und ihre Anhänger forderten, war nicht unbedingt das, was der Westen damit meinte. "Es ging nicht um unterschiedliche Institutionen wie freie Presse, Justizsystem und so weiter", sagt Thant. Die Menschen wollten vor allem die Führungsperson wählen dürfen, die sie wollten: "'Demokratie' bedeutete einfach Suu Kyis Triumph über die Generäle."

Hausarrest für 15 Jahre

15 Jahre verbrachte Suu Kyi fast durchgehend in Hausarrest in Rangun, mit kaum Kontakt zur Familie. 1972 hatte sie den britischen Tibetologen Michael Aris geheiratet, den sie während ihres Studiums in Oxford kennengelernt hatte. Als ihr Ehemann an Krebs erkrankte, durfte er sie nicht besuchen. Er verstarb 1999, ohne dass sich die beide noch einmal gesehen hätten. Etliche ihrer Weggefährten starben in Isolationshaft. Viele gingen ins Exil und kehrten dem Land für immer den Rücken.

Ende der Nullerjahre kam es zur langersehnten Öffnung in Myanmar, Suu Kyi durfte den Hausarrest verlassen, es fanden die ersten freien und fairen Wahlen seit Generationen statt. 2015 gewann die NLD auf Anhieb erdrutschartig eine Absolute. Das Militär blieb aber weiterhin mächtig, weil 25 Prozent der Sitze im Parlament automatisch für die Armee reserviert sind.

Minderheitenrechte kein Hauptanliegen

Weil Suu Kyi zwei britische Söhne hat, durfte sie – so will es die Verfassung – nicht Regierungschefin werden. Daher wurde für sie eine Art Beraterstelle eingerichtet, womit sie de facto die Zügel in der Hand hat. Die Hoffnungen, die international in sie gesetzt wurden, sind aber rasch verblasst. Bezüglich Demokratisierung konnte sie ihr Ziel bisher nicht umsetzen: Einer Verfassungsänderung, die den Anspruch des Militärs auf 25 Prozent der Sitze im Parlament einschränken würde, stimmte die Armee nicht zu. Und in der Rohingya-Krise macht sie international eine katastrophale Figur. Beobachter mutmaßen, dass Suu Kyi dem Militär in der Rohingya-Frage die Stange hielt, um im Gegenzug die Verfassungsänderung zu erreichen. Falls das ihre Rechnung war, ging sie nicht auf.

Die Rechte von Minderheiten lagen aber nie im Kern ihrer Agenda. Schon seit der Zeit ihres Vaters, General Aung San, galt die buddhistisch-burmesische Mehrheit der Bamar (der die Familie auch angehört) als Norm in dem äußerst diversen Land. Viele der zahlreiche Ethnien fühlten sich von Anfang an ausgeschlossen. Für Historiker Thant ist Suu Kyi sowohl Opfer als auch Urheberin der Entwicklungen in dem vom Dauerkrieg zerrütteten Land: "Was auch immer ihre persönlichen Werte sind, auch sie glaubt an dieses nationalistische Narrativ."

Im Westen halten sich Länder mit ihrer Kritik zurück. Die aktuellen Wahlen signalisierten einen "wichtigen Schritt in der Demokratisierung des Landes", ließ US-Außenminister Mike Pompeo am Montag wissen, auch wenn er "Bedenken" habe. Auch die EU lobte Myanmar, kritisierte aber, dass viele Rohingya kein Stimmrecht hätten.

Die Frage der Rohingya entpuppt sich immer mehr als Lackmustest für Suu Kyi. Dabei geht es nicht mehr nur darum, ihrem internationalen Ruf gerecht zu werden. Es geht vielmehr um eine friedliche Zukunft in ihrem Land, für die sie doch ihr Leben lang schon kämpft. (Anna Sawerthal 10.11.2020)