Am 23. Juni 2016 ist das schier Unvorstellbare geschehen. Großbritannien hat sich mit knapper Mehrheit dazu entschlossen, der EU den Rücken zu kehren. Nach jahrelangen, primär innenpolitischen Konflikten und Diskussionen hat der deutliche Wahlerfolg Boris Johnsons im Dezember 2019, der ganz unter dem Motto "Get Brexit Done" stand, den Austritt aus der EU besiegelt. Im Februar 2020 wurde der Brexit schließlich formelle Realität. Ende dieses Jahres wird auch die sogenannte Übergangsphase zu Ende gehen, und der Brexit wird zum ersten Mal seine volle Wirkung entfalten.

Die größte Auswirkung für Europa stellte sich aber quasi über Nacht ein. Um 4.40 Uhr hatte die BBC das erste Mal prognostiziert, dass die Leave-Seite das Referendum knapp gewonnen habe. Seither gibt es kaum ein Land in der EU, das nicht mit der Möglichkeit eines eigenen Exits in Zusammenhang gebracht wurde. Teilweise wurde darin sogar das Ende der EU gesehen, in dem der Brexit der erste Dominostein war und ein Land nach dem anderen austreten würde. Auch wenn schon vor dem Brexit Länder mit Austrittsszenarien konfrontiert wurden, so hat an diese Möglichkeit bis zum 24. Juni 2016 wohl kaum jemand ernsthaft geglaubt. Heute sind Kofferwörter wie Frexit (für einen möglichen Austritt Frankreichs), Nexit (Niederlande), Itexit (Italien) oder auch Öxit (Österreich) sehr geläufig. Aber wie wahrscheinlich ist es eigentlich, dass weitere Länder aus der EU austreten?

Der Brexit ist mit Ende des Jahres vollzogen.
Foto: AFP/JOHN THYS

EU-Exit-Index

Um diese Frage möglichst nachvollziehbar und objektiv zu beantworten, habe ich den EU-Exit-Index entwickelt. Dieser setzt sich aus gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Indikatoren zusammen. Gesellschaftlich nutze ich verschiedene Fragen aus dem Eurobarometer, einer regelmäßig stattfindenden Befragung von Bürgerinnen und Bürgern in allen EU-Mitgliedsstaaten. Unter anderem lässt sich so bestimmen, wie groß der Anteil von Personen ist, die sich ausschließlich mit ihrem Nationalstaat identifizieren, was die Austrittswahrscheinlichkeit erhöht. Wirtschaftlich bezieht der Index etwa mit ein, wie viel Handel mit anderen EU-Mitgliedsländern stattfindet, das heißt wie wertvoll die Mitgliedschaft im europäischen Binnenmarkt ist. Politisch bestimme ich zum Beispiel den Anteil an euroskeptischen Abgeordneten in den nationalen Parlamenten. Danach werden alle Indikatoren so normiert, dass sie von 0 bis 100 reichen, wobei 100 die maximale Austrittswahrscheinlichkeit definiert. Mittels einer Hauptkomponentenanalyse ermittle ich schließlich eine statistisch ideale Gewichtung für jeden Indikator.

Die folgende Grafik fasst das Ergebnis des EU-Exit-Index für den Zeitraum von 2014 bis 2019 zusammen. Großbritannien ist offensichtlich – mit großem Abstand – durchgehend an der Spitze (dunkelblaue Linie). Im Jahr 2015, und damit direkt vor dem Brexit Referendum, erreichte es gut 75 von 100 möglichen Indexpunkten. Damit war es sehr weit vor dem zweitplatzierten Land. Das war im Jahr 2015 Österreich, das aber zu dem Zeitpunkt auch nur 60 Indexpunkte erreichte (rote Linie). Da das Referendum in Großbritannien nur sehr knapp zugunsten eines Austritts ausging und der Brexit auch sonst mehrmals auf der Kippe stand, ist es wahrscheinlich, dass ein Land relativ nahe an diese 75 Indexpunkte kommen muss, um in eine konkrete Austrittsgefahr zu geraten. Davon ist jedes Land – inklusive Österreich – derzeit weit entfernt. Am weitesten davon entfernt ist übrigens Litauen, das den letzten Platz im EU-Exit-Index einnimmt.

Austrittsfantasien gesunken

Die Grafik verdeutlicht außerdem, wie sich der EU-Exit-Index über die Zeit verändert hat. So sind die Werte für Österreich seit 2015 konstant nach unten gegangen. Tschechiens Werte haben sich dagegen auf hohem Niveau eingependelt (dunkelgrüne Linie). Seit 2016 ist Tschechien damit hinter Großbritannien auf Platz zwei. Am meisten zurückgegangen ist der Index für Zypern, das 2015 noch an vierter Stelle war, heute aber im unteren Drittel rangiert (schwarze Linie). Tatsächlich ist der EU-Exit-Index seit dem Brexit-Referendum 2016 fast überall zurückgegangen. Daher gibt es zum jetzigen Zeitpunkt auch keine Anhaltspunkte, dass sich irgendein Land außer Großbritannien den Austritt aus der EU auf die Fahne schreiben will.

Das heißt nicht, dass das für immer so bleiben muss. Gerade wenn Großbritannien den Beweis antritt, dass es sich auch außerhalb der EU gut leben lässt, und der Austritt überwiegend positive Auswirkungen haben sollte, könnten sich mehr Länder mit diesem Szenario anfreunden. Trotzdem ist ein kompletter Kollaps der EU auf diesem Weg schwer vorstellbar. Die meisten Länder werden wohl auch weiterhin einer regelgeleiteten Kooperation innerhalb der EU mehr abgewinnen können als einer Reorientierung über Europa hinaus (Stichwort: Global Britain) oder nationalen Abschottung. Der EU-Exit-Index erlaubt es in jedem Fall, diese Entwicklung besser sichtbar zu machen und die Diskussion über zukünftige Austritte zumindest ein Stück weit zu versachlichen. (Markus Gastinger, 16.11.2020)