Thomas Müller leitet die Uniklinik für Pädiatrie I an der Med-Uni Innsbruck.

Foto: MUI / F. Lechner

Wien/Innsbruck – Die Forderung der vier Wissenschafter war eine Radikalansage: Sofort alle Schulen schließen! Schluss mit dem lockeren Lockdown! "Alle, die jetzt gegen Schulschließung reden, müssen dazusagen, dass sie damit für Triage spätestens ab 18. November sind", schrieben der Mathematiker Peter Markowich, der Informatiker Georg Gottlob und die beiden Physiker Christoph Nägerl und Erich Gornik.

DER STANDARD fragte nach bei einem Experten für Kinder- und Jugendgesundheit: Primar Thomas Müller, der die Uniklinik für Pädiatrie I der Med-Uni Innsbruck leitet. Er stößt sich besonders am "Schluss, den sie ziehen: Wer gegen Schulschließungen ist, akzeptiert Triage. Das ist eine unwissenschaftliche Aussage, polemisch und ein Ausspielen der Generationen. Das bringt uns nicht weiter. Wir wollen alle Patienten bestmöglich versorgen."

Fragt doch mal Kinderärzte!

Darum würden ihn, Müller, die mathematischen Modelle hinter den "apodiktischen Aussagen" der vier "hochrangigen Wissenschafter, die sicher rechnen können, das zweifle ich nicht an", interessieren: "Welche Annahmen haben sie für ihre Modelle genommen?" Und, so Müller: "Es wäre ganz gut, wenn man auch mit Kinderärzten sprechen würde und die Annahmen der Modellierungen diskutieren könnte." Die vier schrieben ja, Schulen seien "einer der Treiber von respiratorischen Viren, das ist bewiesene Tatsache".

Ja, für Grippe zum Beispiel stimme das unweigerlich, erklärt Müller: "Wir wissen, dass Kinder Influenza-Superspreader sind. Da wäre es simpel zu berechnen und klar, dass man Infektionsketten durch Schulschließungen signifikant unterbrechen kann."

Aber bei Corona sehe es derzeit etwas anders aus, erklärt der Pädiatrie-Professor Müller: "Beim aktuellen Stand der Wissenschaft zeigt sich, dass Kinder nicht so Superspreader und Virenschleudern sind wie bei anderen respiratorischen Viren. Es gibt eine vorsichtige Evidenz dafür, dass Kinder das Coronavirus weniger leicht aufnehmen, das zeigen Antikörperstudien. Das kann sich natürlich ändern, weil diese Studien zum Zeitpunkt von Lockdown-Maßnahmen beziehungsweise geschlossenen Schulen durchgeführt wurden. Auf der anderen Seite waren in Schweden im Vergleich zu Finnland die Schulen offen, und in beiden Ländern wurden ähnliche Infektionszahlen bei Kindern beobachtet."

Vieles weiß man über das Virus, vieles leider noch nicht

Was die Viruslast im Rachen anlangt, so ist "die gleich, auch nicht höher als bei Erwachsenen". Bleibt die Frage: Wie ansteckend ist ein asymptomatisches Kind für Erwachsene? "Das wissen wir leider noch nicht", sagt Müller. Er stellt in Richtung der vier Wissenschafter die Frage: "Habt ihr die Annahme gemacht, dass Kinder das Coronavirus gleich gut weitergeben wie etwa Grippe? Oder wie Erwachsene, die Schulter an Schulter mit einem Bier im Vereinshaus sitzen?"

Die Empfänglichkeit von Kindern unter 14 Jahren für das Coronavirus betrage aber nur circa 56 Prozent im Vergleich zu Erwachsenen, das heißt: "Wenn tatsächlich nur jedes zweite Kind das Virus aufnimmt, gibt es auch nur jedes zweite Kind weiter", erklärt Müller. Zwischen der Empfänglichkeit für das Coronavirus von 14- bis 20-Jährigen und Erwachsenen gibt es hingegen keinen signifikanten Unterschied mehr – deshalb sind sie ja nach den Herbstferien ab 2. November ins Distance-Learning geschickt worden.

Es sei daher unbestritten, dass ein Durchtrennen von Infektionsketten, an denen Kinder beteiligt sind, "einen gewissen Effekt hat", sagt Müller: "Das bremst. Dass es keinen Effekt hat, kann niemand sagen. Aber es kann auch niemand belegen, dass das der große beziehungsweise entscheidende Faktor ist."

Fachgesellschaft ist gegen Schulschließungen

Was also tun mit den Schulen aus kinderärztlicher Sicht? "Die Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde ist gegen Schulschließungen", sagt der Pädiater: "Erst wenn alle anderen Maßnahmen nicht ausreichen, um die Pandemie in den Griff zu bekommen, muss man selbstverständlich auch an diese Maßnahme denken." Man habe auch einen Brief an Bildungsminister Heinz Faßmann geschrieben mit der Bitte, "den Schuleffekt differenziert zu betrachten".

Bevor man also alle Schulen flächendeckend schließe, sollten die Klassen verkleinert und geteilt und auf Vormittags- und Nachmittag- oder sonstigen Schichtbetrieb umgestellt werden, dann hätten akut infizierte Schüler im Klassenzimmer quasi nur noch die halbe Angriffsfläche zur Verfügung: "Dann wäre das Risiko schon halbiert", erklärt Müller: "Solche Sachen könnten die Mathematiker modellieren und die Altersdaten der Ages anschauen", würde er sich wünschen.

Und die Mama muss dann auch daheim bleiben

Jetzt müsste einmal der Effekt der Schließung der Oberstufen geprüft werden: "Wenn das nicht viel gebracht hat, dann bringt eine Schulschließung für jüngere Kinder, die weniger empfänglich sind für das Virus, noch weniger." Außerdem würde sich Müller Modellrechnungen wünschen, die zeigen, welche Effekte sich ergeben würden, wenn man auch die Volksschulen und Unterstufen nach Hause schickt: "Dann nimmt man meistens auch einen Erwachsenen aus dem öffentlichen Leben heraus. Im konservativen Österreich ist das oft die Mama ..." Auch das sei alles zu bedenken.

Generell würden er und seine Kollegen aus dem pädiatrischen Bereich "noch Potenziale sehen, um die Pandemie zu bremsen: das ist die Maskenpflicht ab der Unterstufe – hart, aber besser als kein Unterricht." Beim Stichwort Potenziale blickt Müller aber zum Beispiel auch in Richtung "Einkaufszentren. Wie's da zugeht am Wochenende ... Das kleine Schuhgeschäft oder die Boutique ist nicht das große Problem. Also bitte nicht als nächste Maßnahme den kompletten Schulschluss! Schulen müssen wirklich die letzte Maßnahme sein, wenn man sagt, okay, wir haben alle anderen Maßnahmen ausgeschöpft, aber wir kommen sonst nicht hin." Und das sagt Müller ganz bewusst in dem Wissen: "Kinder haben natürlich die schwächste Lobby in diesem System." (Lisa Nimmervoll, 11.11.2020)