Laut Pamela Rendi-Wagner haben unabhängige Expertinnen und Experten in der Bevölkerung eine höhere Glaubwürdigkeit als die Politik.

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SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner und der Umweltmediziner Hans-Peter Hutter.

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Einen ständigen, unabhängigen, interdisziplinären und weisungsfreien Corona-Expertenrat fordert SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner gemeinsam mit dem Umweltmediziner Hans-Peter Hutter von der Med-Uni Wien. Das Gremium solle nicht nur aus Virologen bestehen, wie Rendi-Wagner, die selbst Infektiologin ist, erklärte. Aufgabe des Rats müsse sein, die gesetzten Corona-Maßnahmen laufend zu bewerten und auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen sowie gleichzeitig die nächsten Monate vorzubereiten.

"Wichtig ist nun eine Langzeitperspektive. Wie wird Weihnachten? Wie werden wir die nächsten Wochen und Monate mit dieser Situation leben?", so Hutter und fordert für jeden Sektor maßgeschneiderte Maßnahmen. Doch dafür brauche es jeweils ein Fundament aus wissenschaftlichen Daten. "Wir haben viel gelernt und müssen viel noch herausfinden. Wenn der kleine Finger das Problem ist, muss man nicht die ganze Hand amputieren", so der Experte. Ziel sei, dass die Intensivstationen nicht unter Druck geraten, aber dennoch ein öffentliches Leben mit möglichst wenig Bewegungseinschränkungen für Kinder und Erwachsene möglich ist.

Zwei Lager

Durch einen Expertenrat soll zudem sichergestellt werden, dass freiheitsbeschränkende Maßnahmen nur so lange wie unbedingt nötig zum Tragen kommen. Zudem hätten unabhängige Expertinnen und Experten in der Bevölkerung eine höhere Glaubwürdigkeit als die Politik. "Wenn sie frei reden dürfen, dann wird die Bevölkerung die Maßnahmen besser nachvollziehen können und sie auch mittragen", so Rendi-Wagner. Andernfalls sei die Konsequenz, so Hutter, dass sich die Bevölkerung in zwei Lager spalte: die enorm Ängstlichen und diejenigen, die die Pandemie nicht ernst nehmen.

Konkret schlagen Rendi-Wagner und Hutter den Obersten Sanitätsrat für diese Aufgabe vor. Das Gremium, das im Herbst 2019 zuletzt getagt hat, existiert bereits seit 1870 als Beratungsorgan für die Politik – doch ausgerechnet in Zeiten der Pandemie wurde im Vorjahr eine Neubestellung des Sanitätsrats nicht durchgeführt. Rendi-Wagner fordert nun, das Gremium, mit Ergänzung einiger Expertinnen und Experten, zum Corona-Expertenrat umzufunktionieren, der für die Politik eine evidenzbasierte Entscheidungsbasis schaffen soll.

Schulen offen lassen

In der aktuellen Diskussion über Schulschließungen sprechen sich Rendi-Wagner und Hutter explizit dagegen aus. Man wisse aus wissenschaftlichen Daten, dass Kinder eine sehr geringe Rolle bei der Virusverbreitung spielen. "Fast alle Kinder sind asymptomatisch. Und obwohl sie über eine gleich hohe Viruslast wie Erwachsene verfügen, sind uns keine brisanten Ausbrüche an Schulen bekannt", so Hutter.

Zudem wisse man aus einer Studie der OECD zum ersten Lockdown, dass Schulschließungen eine Maßnahme mit geringer Wirkung, aber großer Nebenwirkung seien. "Eine Verhältnismäßigkeit ist nicht gegeben", so die SPÖ-Politikerin. Zumal Bildungslücken, Wirtschafts-, Entwicklungs- und soziale Schäden sowie die Betreuungsproblematik die Folge seien. Stattdessen müssten an Schulen "alle Sicherheitskonzepte ausgeschöpft werden", so Rendi-Wagner – etwa eine Ausweitung der Maskenpflicht, klare, evidenzbasierte Lüftungsregeln, größere Räume, gestaffelte Beginnzeiten oder Testschnellstraßen. "Wir können das Risiko so weit minimieren, dass ein Schulbetrieb bis 14 Jahre definitiv möglich ist", sagt Hutter und hält es für indiskutabel, Schulen zu schließen.

Contact-Tracing

Das Rückverfolgen der Kontakte von Infizierten ist laut Rendi-Wagner und Hutter der Schlüssel zur erfolgreichen Pandemiebekämpfung. Es müsse rasch funktionieren – einerseits, um Cluster und neue Ausbrüche zu stoppen; andererseits, um Daten zur Ausbreitung der Pandemie zu erhalten. Nur so ließe sich in der Prävention ansetzen und ein maßgeschneidertes Paket an Maßnahmen schnüren, durch das möglichst wenig Kollateralschäden entstehen, so Rendi-Wagner. Sie nennt es ein Versäumnis der Bundesregierung, dass im Sommer nicht vermehrt Personal für das Contact-Tracing umgeschult und aufgestockt wurde.

Die aktuellen Engpässe, zu denen es im Bereich des Contact-Tracings bereits gekommen ist, seien ein No-Go, wie auch Hutter es nennt. Diese müsse man durch enorme Anstrengungen und eine massive Unterstützung ausgleichen. Es brauche nicht nur neues Personal, sondern auch eine Stärkung der bereits tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. "Dieser Job ist keine schöne Aufgabe. Wir müssen uns eine Entlastung für diesen Berufszweig überlegen", so Hutter.

Gute Nachrichten

Erste gute Nachrichten gibt es dennoch, auch wenn sie noch mit Vorsicht zu genießen sind: Sowohl Hutter als auch Rendi-Wagner sprechen von einer Trendumkehr, die sich in den Zahlen der letzten acht Tag abzeichne. "Die Geschwindigkeit der Zunahme der Fallzahlen hat sich reduziert", so Rendi-Wagner. Möglicherweise könnten die Ausgangsbeschränkungen hier erste Wirkung zeigen, so Hutter: "Wir sind aber noch nicht über den Berg." Dennoch zeige sich auch bei der Zahl der Patientinnen und Patienten auf Intensivstationen eine schwache Entschleunigung. Ob der Trend anhält, wird sich aber erst in den nächsten Tagen zeigen. (Bernadette Redl, 10.11.2020)