STANDARD: Herr Corbijn, für viele Fotografen ist es ein Traum, nah an einer Band zu sein. Als Sie 1981 zum ersten Mal die Band Depeche Mode trafen, waren Sie wenig begeistert. Warum?
Anton Corbijn: Ich habe die Band im April 1981 fotografiert, ohne es zu wissen. Die Jungs spielten in London als Vorband für Fad Gadget, deren Industrial-Sound ich sehr mochte. Ich habe nicht einmal zehn Bilder gemacht, wer achtet schon auf die Vorband, habe später keine Sekunde mehr darauf verschwendet – und erst dieses Jahr festgestellt, dass es meine ersten Fotos von den Jungs waren. Sie steckten damals noch tief in der New-Romantic-Phase fest, ich mochte ihre Musik nicht, weil sie mir zu sehr nach Plastikpop klang. Nie im Leben hätte ich mir träumen lassen, dass wir 39 Jahre später ein Buch über diese Jungs machen würden.
STANDARD: Dieses Mammutwerk mit mehr als 500 Seiten gibt es nur in einer Auflage von knapp 2000 Exemplaren. Was sehen Sie, wenn Sie die Bilder aus vier Jahrzehnten betrachten?
Corbijn: Die Spontaneität der Anfangsjahre ist verblasst. Die vier Jungs hingen damals öfter zusammen ab, ich konnte Zufallsbilder von ihnen machen. Das ist in den vergangenen 20 Jahren nicht mehr möglich gewesen. Sie leben an völlig verschiedenen Orten, Martin Gore in Kalifornien, Dave Gahan in New York und Andrew Fletcher in London. Alan Wilder hat Depeche Mode verlassen. Die Naivität früherer Aufnahmen ist organisierten Shootings gewichen, zu denen man sich trifft.
STANDARD: Martin Gore hat gesagt, dass die Band in den frühen 1980er-Jahren ein Problem mit ihrem Image hatte. Wie sah es aus?
Corbijn: Unklar, schwammig. In der Fotografie erkannte ich keine Richtung, die mit der Musik einherging. Alles sah ziemlich deutsch aus.
STANDARD: Was meinen Sie damit?
Corbijn: Na ja, ein bisschen wie für die Bravo gemacht: auf Hochglanz poliert, ohne Seele, ziemlich schreckliches Zeug, wenn ich das sagen darf. Das war einer der Gründe, warum ich es jahrelang ablehnte, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Es gab ja zwischen 1981 und 1986 bereits diverse Anfragen. Aber ich fühlte mich nicht wohl dabei, sie zu fotografieren.
STANDARD: Mit dem Clip zu "Question of Time" begann 1986 Ihre langjährige Tätigkeit für die Gruppe. Sie sagten zu, als die Band beschloss, dass Sie mit ihr in den USA drehen könnten. Hat Sie bloß der Freiflug gereizt?
Corbijn: Ich wollte eine Art Roadmovie drehen. Mich reizte diese Stimmung amerikanischer Filme, mit denen ich aufgewachsen war. Das Geld spielte für mich keine Rolle bei der Entscheidung, es gab nämlich fast keines. Ich konnte mir keinen Kameramann leisten und musste deshalb lernen, selbst zu filmen. Kurz darauf wurden besonders Martin und ich gute Freunde. Er lebte damals in der Nähe meiner Wohnung in Westlondon, wir trafen uns nachmittags zum Tee und redeten über Frauen.
STANDARD: Hat er Ihnen gezeigt, wie man sich die Fingernägel lackiert?
Corbijn: Nein, aber hätte ich nur das geringste Interesse daran bekundet, hätte er es getan.
STANDARD: Mochten Sie zu diesem Zeitpunkt die Musik?
Corbijn: Als ich mich näher mit Music for the Masses beschäftigte, bemerkte ich, dass sich die Band musikalisch weiterentwickelt hatte, sie war erwachsener geworden. Hätte ich mich damals nicht auf Depeche Mode eingelassen, wäre mir diese Platte vermutlich durch die Lappen gegangen. Das wäre schade gewesen. Lieder wie Never Let Me Down Again sind noch heute großartig.
STANDARD: Was haben Sie damals von Depeche Mode gelernt?
Corbijn: Wie ich mich ordentlich betrinke. Ihre Partys in den Anfangszeiten waren exzessiv. Allerdings musste ich nur einmal ein Fotoshooting absagen, Ende der 1980er-Jahre in Mailand. Am Abend zuvor waren die Jungs feiern gegangen, wir wollten am nächsten Tag auf dem Land drehen – das ist nie passiert.
STANDARD: Gab es irgendwelche Vorgaben von der Band an Sie?
Corbijn: Nein, mir fiel etwas ein, die Band stimmte zu. Es gab nie diese kreativen Sitzungen wie bei U2, wo jeder etwas zu sagen hat. Als 1990 das Album Violator erschien, wurde die ganze Sache etwas größer, weil plötzlich mit Sire eine amerikanische Plattenfirma mit im Boot saß. Da gab es Stimmen, die sich einmischten. Besonders als ich das Video von Enjoy the Silence drehen wollte. Ich schlug vor, einen König mit einem Liegestuhl durch die schönsten Landschaften laufen zu lassen. Die Idee wurde zuerst abgelehnt, auch von der Band.
STANDARD: Sie waren davon jedoch so überzeugt, dass Sie dies bei einem zweiten Treffen einfach noch einmal vorschlugen.
Corbijn: Ich dachte, die Jungs verstehen nicht, dass sie hier den besten Song ihres Lebens geschrieben haben und dafür einen besonderen Clip brauchten. Sie hielten meinen Vorschlag für verrückt, aber sie vertrauten mir, und am Ende haben wir alles so gedreht, wie ich es wollte.
STANDARD: Könnte das Missverständnis auch daran liegen, dass Sie Ihre Ideen oft nur auf Servietten skizzieren?
Corbijn: Ich war nie der Typ, der gut schreiben konnte, sondern auf einen Zettel scribbelte, was mir vorschwebte. Vermutlich fühlte sich das für die Band komisch an, wenn man gewöhnt ist, dass ein Videoregisseur Storyboards mitbrachte. Tja, mit mir bekamen sie eine Lektion im Amateurhaften. Doch das Ergebnis sah toll aus. Das Plattencover von Violator mit der Rose und den unterschiedlichen Grundfarben gefiel Bono so sehr, dass er zu mir sagte, er möchte so etwas Ähnliches auch mit dem nächsten U2-Album machen. Deshalb wurde die Bildersprache von Achtung, Baby farbiger als die der Vorgängerplatten.
STANDARD: Sind die beiden Bands eigentlich befreundet?
Corbijn: Sie kennen sich. Es gibt keine Eifersucht zwischen ihnen, mit wem ich mehr Zeit verbringe. Zu meinem Geburtstag haben sich Bono und Martin auch schon getroffen. Auf beiden Seiten herrscht inzwischen Bewunderung. Manchmal überbringe ich Bono eine Nachricht von Dave.
STANDARD: 1997 sind Sie mit Depeche Mode zweimal aufgetreten und sind fürs Fernsehen an den Drums gesessen.
Corbijn: Die Band hatte den Eindruck, ich sei ein guter Schlagzeuger, weil ich manchmal im Studio auf dem Instrument spielte, wenn mir langweilig war. Alan Wilder war weg, doch die erste Single vom Album hatte einen wummernden Drumbeat – und dafür brauchten sie jemanden an den Instrumenten. Es war zwar Playback, doch ich musste an den richtigen Stellen die Drums einsetzen. Ich habe schnell ein wenig Unterricht genommen, mir für 1500 Pfund ein Drumset gekauft und am Ende von der BBC 400 Pfund Auftrittshonorar erhalten. Ich habe also 1100 Pfund für meinen Spaß bezahlt. (Ulf Lippitz, RONDO Exklusiv, 2.1.2020)