Lucidvox dürften 2021 international durchstarten.

Foto: Glitterbeat

Lucidvox aus Moskau gibt es zwar schon einige Jahre lang. Mit dem aktuellen Tonträger We Are aber versuchen sich die vier Russinnen jetzt erstmals auch auf dem internationalen Markt zu behaupten. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Erstens ist der jüngeren Generation aus dem russischen Fach neben bizarren Auftritten von Eurovision-Song-Contest-Acts höchstens noch das Frauenduo t.A.T.u. mit seinen crazy lesbischen Zungenküssen von Anfang der Nullerjahre bekannt.

Die aus dem Kabarettfernsehen bekannte heimische Band Russkaja besteht zweitens auch aus einem Russen als Sänger und setzt auf als Polka gedeutete jamaikanische Ska-Musik mit Grunzgesang. Sie gilt dank Formationen wie den echten Russen von der Band Leningrad als international partytauglich – und in Russland als ungemein populär.

Das ist jetzt stark verkürzt: Zuvor gab es neben dem falschen Berliner Russen Ivan Rebroff als Wirtschaftswunder-Zarewitsch mit dem Wolgalied für alte deutsche Krieger in den 1970er-Jahren noch stilprägende echte russische Bands wie Aquarium und DDT – oder in den 1980er-Jahren die Dunkelmänner von Kino. Nach der Perestroika aber hörte man, abgesehen von Undergroundmusik zwischen Techno (Nina Kraviz), Elektronik (Kate NV) oder Performance-Spinnertum der Marke Pussy Riot, kaum Interessantes aus Russland. Der Drang nach Osten war immer zu stark, um Bands von dort im Westen etablieren zu können. Eher schon marschierten Rammstein bis ins Olympiastadion von Moskau durch.

Lucidvox - Topic

Wie in allen anderen globalisierten Ländern der Welt auch existieren in Russland heute unzählige Kopien angloamerikanischer Vorbilder. Immerhin findet man hierzulande ja auch in jedem zweiten Tal in Salzburg-Innergebirg eine im Dialekt singende Reggaeband oder ein Geschwisterduo, das esoterischen Pop im Geiste von Enya macht.

Das macht die Ausnahmeerscheinung Lucidvox, neben aktuellen russischen Bands wie Glintshake oder Shortparis, so interessant. Zwar kommt gelegentlich auch eine in der Rockmusik trotz antiker Vorbilder wie Jethro Tull nur selten als zwingend erachtete Flöte zum Einsatz. Wer will sich vor dem Rocken schon gern die Zähne putzen?

Lucidvox

Nach ihren Anfängen als Coverband, die US-Indiegrößen wie Sonic Youth oder die Pixies im Programm hatte, versuchen sich die vier Frauen aber ohnehin lieber im flirrenden und gehackten New-Wave-Rock klassischer Ausrichtung. Dank des nach Learning by Doing klingenden Instrumenteneinsatzes, den man ab Ende der 1970-Jahre so von britischen Bands wie etwa Wire schätzte, geht es mollig-verhallt auch einmal Richtung Gruftiehausen. The Cure und Siouxsie and the Banshees dürften Lucidvox bekannt sein. Dazu schreckt man vor gelegentlichen metallischen Black-Sabbath-Riffs nicht zurück.

Frisch hinzu kommt der Einbau pathosgetränkter russischer Volksmusik. Die verdecken dann fast, dass textlich das harte Leben in Moskau 2020 verhandelt wird. Kaputte Familien, Elend, Korruption, Kriminalität. Die Zeiten sind nicht gut. Sie werden härter. Ivan Rebroff wäre das zu steil gewesen. (Christian Schachinger, 11.11.2020)