Russlands Präsident Wladimir Putin konnte in letzter Minute eine Einigung durchsetzen.

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Seit Mitternacht schweigen die Waffen. In einer gemeinsamen Erklärung haben sich Russlands Präsident Wladimir Putin, sein aserbaidschanischer Amtskollege Ilham Alijew und der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan auf eine neue Grenzziehung und die Stationierung eines russischen Militärkontingents zur Sicherung des neuen Status quo im Konflikt um Bergkarabach geeinigt.

Russlands Eingreifen in letzter Minute, auch provoziert durch den Abschuss eines russischen Militärhubschraubers durch aserbaidschanische Truppen, hat Armenien vor der vollständigen Niederlage in Bergkarabach bewahrt. Trotzdem kann sich Alijew das Abkommen als Sieg anrechnen. Aserbaidschan verleibt sich wieder rund die Hälfte des abtrünnigen Gebiets ein – darunter die zweitgrößte Stadt Schuscha, die strategisch von immenser Bedeutung ist und es Baku bei Bedarf erlaubt, die Offensive fortzusetzen.

Von Innenpolitik abgelenkt

Zudem hat sich das militärische Abenteuer, das die aserbaidschanische Führung euphemistisch als "Gegenangriff" begonnen hat, auch aus innenpolitischen Gründen für den autoritär regierenden Alijew gelohnt. Einmal mehr bewahrheitete sich der Spruch: Es gibt nichts Besseres als einen kurzen siegreichen Krieg, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Die Unzufriedenheit mit dem Regime war zuletzt deutlich gewachsen, auch weil der sinkende Ölpreis wirtschaftliche und soziale Probleme brachte. Das ist derzeit vergessen, freude- und nationaltrunken tanzen die Menschen in Baku auf der Straße.

Tayyip Erdoğan als Zündler im Konflikt kann ebenfalls zufrieden sein: Der türkische Präsident sicherte Baku nicht nur diplomatische Rückendeckung, Ankara lieferte auch eifrig Drohnen und schleuste tausende syrische Islamistenkämpfer in den Kaukasus ein. Am Ende hat die Türkei ihren Status als Regionalmacht im Kaukasus durch den Sieg des Bündnispartners gefestigt.

Ordnungsmacht Russland

Weitgehend positiv dürfte auch das Fazit in Moskau ausfallen: Russland musste – abgesehen von dem versehentlich getroffenen Hubschrauber – keine eigenen Ressourcen investieren, konnte sich aber einmal mehr als Ordnungsmacht präsentieren und wird seine Präsenz im Südkaukasus durch eigene Truppen weiter stärken.

Nur Armenien sieht sich nicht zu Unrecht als Verlierer des Abkommens. Die Stimmung in Eriwan ist gereizt. Paschinjan, der die seinen Worten nach "schmerzhafte" Einigung unterschreiben musste, ist bereits zur Zielscheibe nationalistischen Hasses geworden.

Sturm auf Parlament

Demonstranten stürmten das Parlamentsgebäude, prügelten den Parlamentschef krankenhausreif und raubten die Residenz von Paschinjan aus. Für Armenien war der Waffenstillstand Rettung und Fiasko zugleich. Ohne die von Moskau forcierte Einigung drohte Baku mit der Eroberung von ganz Bergkarabach. Doch auch so sind die menschlichen und territorialen Verluste gewaltig, viele Binnenflüchtlinge sind eine wirtschaftliche und soziale Last. Das kleine IT-Wirtschaftswunder im Kaukasus ist bedroht.

Ebenso die politische Stabilität. In Armenien, einer der wenigen Demokratien in der Region, ist die Regierung schwer angeschlagen, ein Umsturz ist nicht ausgeschlossen. Der Nationalismus wird weiter erstarken. Nicht auszuschließen, dass auf dieser Welle Populisten in Eriwan mit dem Versprechen einer Revanche an die Macht gelangen. (André Ballin aus Moskau, 10.11.2020)