Die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde betont nach einer sorgfältigen Analyse wissenschaftlicher Literatur, dass es keinen verlässlichen Hinweis darauf gibt, dass Kinder in Bezug auf Sars-CoV-2 sogenannte "Treiber" der Virusverbreitung sind und Schulschließungen die Situation deshalb auch nicht günstig beeinflussen können.

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Die Gerüchte um eine neuerliche Schulschließung verdichten sich. Dabei sollen frühestens am Donnerstag relativ aussagekräftige Zahlen über die Wirkung der aktuellen Maßnahmen vorliegen. Sollte sich keine Entschleunigung des Infektionsgeschehens abzeichnen, droht eine Verschärfung der Maßnahmen. Die Front gegen einen weiteren Bildungs-Lockdown wird zwischenzeitlich immer breiter. Sie reicht von der Jugendanwaltschaft über den Katholischen Familienverband und die Kinderfreunde über Caritas und Wirtschaftskammer, IHS und Wifo bis zu Kinder- und Lungenfachärzten.

Ganz plötzlich melden sich jedoch auch Berufsgruppen lautstark zu Wort, deren Expertise man in diesen Bereichen eher nicht vermutet hätte. "Physiker, Mathematiker, Veterinärmediziner und Komplexitätsforscher fühlen sich offensichtlich dazu berufen, einen neuerlichen Schul-Lockdown mittels höchst fragwürdiger Modelle und unter Berufung auf nicht nachvollziehbare Quellen herbeizureden", bringt es die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) auf den Punkt. Denn anders als bisher vielfach propagiert, legen bisherige Beobachtungen nahe, dass Kinder in der Infektionskette keine so bedeutende Rolle spielen, bestätigt Bernd Lamprecht, Vorstand der Linzer Uniklinik für Lungenheilkunde, im STANDARD-Interview. "Wir fordern deshalb eine Rückkehr zu evidenzbasiertem Handeln", heißt es vonseiten der ÖGKJ.

Wer Viren verschleudert

"Wenn es zu Ansteckungen kommt, dann schon eher zwischen Erwachsenen und Kindern, nicht umgekehrt", betont Volker Strenger von der Grazer Uni-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde. "Das wird oft, auch von Fachkollegen, falsch wiedergegeben." Das Fazit der Mediziner: Einer sorgfältigen Analyse der wissenschaftlichen Literatur zufolge gibt es keinen verlässlichen Hinweis darauf, dass Kinder in Bezug auf Sars-CoV-2 die sogenannten "Treiber" der Virusverbreitung sind und Schulschließungen die Situation günstig beeinflussen könnten. Strenger zitiert eine Statistik der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages), die bei den Jüngsten den geringsten Anstieg ausweist.

So stieg die Zahl der wöchentlichen Corona-Infektionen seit der letzten Ferienwoche bei den unter Sechsjährigen um 456 Prozent, bei den Sechs- bis Neunjährigen um 416 Prozent und bei den Zehn- bis 14-Jährigen um 1.200 Prozent. Die 35- bis 39-Jährigen kamen hingegen auf ein Plus von 2.026 Prozent, die 45- bis 49-Jährigen auf ein Plus von 2.240 Prozent. "Der zuletzt beobachtete Anstieg der Infektionen darf kein Vorwand für ein neuerliches, experimentelles Schließen von Bildungseinrichtungen sein", appelliert auch Reinhold Kerbl vom LKH Hochsteiermark/Leoben.

Zuerst seien präventive Maßnahmen auszuschöpfen, etwa eine MNS-Pflicht der Lehrer außerhalb der Klassen, höhere Mindestabstände, flexible Schulstart- und -endzeiten oder auch das Anbringen von Plexiglasscheiben. "Zudem ist es einfacher, die Kontaktpersonen in den Schulen zu verfolgen, als in anderen Bereichen. Wir würden es generell begrüßen, wenn mehr auf die medizinischen Fachexperten gehört wird", betont auch Thomas Szekeres, Präsident der Österreichischen Ärztekammer.

Schulschließung mit Nebenwirkungen

Neben den negativen Auswirkungen auf die Bildung der Kinder, ihre psychosoziale Gesundheit, auf ihre Familien und die gesamte Gesellschaft und Wirtschaft sieht Volker Strenger keine positiven Wirkungen, die diese drastischen Maßnahmen nach sich ziehen könnten.

Gleiches hört man auch von der Österreichischen Gesellschaft für Kinderschutz Medizin (ÖGKiM), die Vertreter aus den Bereichen Kinder- und Jugendheilkunde, Klinische- und Gesundheitspsychologie, Psychotherapie, Psychiatrie sowie Kinder- und Jugendchirurgie vereint. Das Ziel des Vereins ist die Förderung sowie auch der Schutz vor Gewalt oder Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen. Auch ihrer Einschätzung zufolge haben die Auswirkungen der Pandemie auf die nächste Generation bisher viel zu wenig Beachtung gefunden. "Wir fordern deshalb einen stärkeren Fokus auf die junge Generation und ein Offenhalten der Schulen während des zweiten Lockdowns", heißt es in ihrem Positionspapier.

Hinzu kommt aus Sicht der Kinderärzte das Problem, dass geschlossene Schulen und Kindergärten zwangsweise dazu führen, dass ein Teil der Eltern für die Kinderbetreuung auf Großeltern zurückgreifen muss und damit die Infektionsgefahr für diese vulnerable Personengruppe wieder steigt. Außerdem: "Wenn das Gesundheitspersonal beispielsweise wegen Schulschließungen zu Hause bleiben muss, könnte das sogar dazu führen, dass die Mortalität durch Corona steigt", warnt Reinhold Kerbl.

Kerbl spricht deshalb auch von einer "Allianz der Besorgten", die sich unter Fachkollegen im Kampf gegen einen Bildungs-Lockdown gebildet habe. Denn ein weiterer Schul-Lockdown sei seiner Meinung nach "ein Experiment, für das es keine wissenschaftliche Grundlage gibt". Damit zielt er vor allem auch auf die Gruppe von Wissenschaftern ab, die vergangenen Montag eine sofortige Schließung der Schulen gefordert haben. Kerbl: "Wenn Physiker glauben, ihre Argumente über die Pandemie in Umlauf bringen und damit auch Angst und unnötige Besorgnis erzeugen zu müssen, dann ist das vergleichsweise so, als würde sich die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendliche zu Quantentheorien zu Wort melden und diese infrage stellen."

Ohne Evidenz

Mediziner wie Volker Strenger kritisieren deshalb Teile ihre Kollegenschaft, die ohne wissenschaftliche Evidenz Behauptungen verbreiten oder teilweise Evidenzbasiertes bewusst völlig falsch auslegen. "Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Peer-Reviews, Non-Peer-Reviews oder Pre-Prints in diversen wissenschaftlichen Datenbanken. Man muss sie nur richtig lesen", sagt Strenger. Offensichtlich würden das aber nur die wenigsten wirklich tun. So beispielsweise auch bei dem Vergleich von Covid-19-Clustern mit Influenza-Clustern. Anders als bei Covid-19 mache das Schließen der Schulen bei Influenza nämlich durchaus auch Sinn. "Die Influenza ist aber nicht das Gleiche wie Sars-CoV-2", betont Strenger: "Das muss man einigen Politikern oder Experten vielleicht noch mitteilen."

Im Gespräch mit dem STANDARD erklärte Thomas Müller, Leiter der Innsbrucker Kinderklinik, bereits: "Beim aktuellen Stand der Wissenschaft zeigt sich, dass Kinder nicht so Superspreader und Virenschleudern sind wie bei anderen respiratorischen Viren." Es gebe eine vorsichtige Evidenz dafür, dass Kinder das Coronavirus weniger leicht aufnehmen, das würden Antikörperstudien zeigen. "Das kann sich natürlich ändern, weil diese Studien zum Zeitpunkt von Lockdown-Maßnahmen beziehungsweise geschlossenen Schulen durchgeführt wurden", sagt der Mediziner. Auf der anderen Seite seien in Schweden im Vergleich zu Finnland die Schulen aber offen, und in beiden Ländern würden sich ähnliche Infektionszahlen bei Kindern beobachten lassen.

Rolle der Kinder

Die Rolle der Kinder in der Pandemie sei von drei Faktoren abhängig: der Empfänglichkeit von Kindern, sich mit Sars-CoV-2 anzustecken, der Wahrscheinlichkeit, als Kind an Covid-19 symptomatisch zu erkranken, sowie der "Fähigkeit" von Kindern und Jugendlichen, das Virus auch weiterzugeben. Die Empfänglichkeit dafür, sich mit Sars-CoV-2 anzustecken, ist bei Kindern geringer – das sollen Kontaktpersonenstudien ebenso wie Dunkelzifferstudien bereits zeigen. Eine Metaanalyse, die 32 Studien inkludiert, zeigt, dass verglichen mit Erwachsenen das Risiko zu erkranken bei Kindern unter 14 Jahren bei circa 50 Prozent liegt. Außerdem erkranken sie auch deutlich seltener symptomatisch und geben das Virus auch seltener, und wenn, dann an weniger Menschen weiter.

Darüber hinaus soll auch eine große Studie aus Indien belegen, dass Ansteckungen vor allem innerhalb derselben Altersgruppe erfolgen und Kinder deutlich öfter von ihren Eltern angesteckt werden als umgekehrt. Eine weitere breit angelegte Studie aus Großbritannien wiederum hat gezeigt, dass sich in Haushalten mit Kindern Erwachsene nicht häufiger mit Sars-CoV-2 infizieren. Dem Chinese Center for Disease Control and Prevention zufolge liegt die Wahrscheinlichkeit der unter Zehnjährigen, symptomatisch an Covid-19 zu erkranken, bei einem Prozent, ebenso bei Zehn- bis 19-Jährigen. Ab dem 20. Lebensjahr steigt die Wahrscheinlichkeit hingegen. Bei 20- bis 29-Jährigen auf acht Prozent, auf 87 Prozent bei den 39- bis 79-Jährigen.

Sars-CoV-2 und Schule

Das sei auch in Schulen trotz zahlreicher Kontakte nicht anders. Auch hier belegen Untersuchungen aus Australien, Finnland, Frankreich, Irland, Schweden und Großbritannien, dass trotz zahlreicher Kontakte wenig bis keine Übertragung stattfindet. So habe es im Frühjahr keine Unterschiede bei den Infektionen unter Kindern in Schweden und Finnland gegeben, obwohl in Schweden Kindergärten und Volksschulen offen waren, während in Finnland auf Fernunterricht umgestellt wurde. Ähnliche Belege gibt es den Kinderärzten zufolge auch für Österreich, wo der Anteil der Schulkinder an allen Covid-Fällen mit den Sommerferien gestiegen und seit dem Schulbeginn wieder zurückgegangen sei. Das Gegenbeispiel Israel ist laut Volker Strenger wegen der Unterschiede bei Schulsystem und Gesellschaft schlicht nicht mit mitteleuropäischen Schulen vergleichbar.

Auch Fernlehre in den Oberstufen dürfte die Verbreitung des Coronavirus unter Schülern bisher nicht ausgebremst haben, das belegen zumindest die Daten des Bildungsministeriums. Demnach ist in Salzburg und Tirol nach der Umstellung der Oberstufen auf Fernunterricht der Anteil der 15- bis 19-Jährigen unter allen Covid-19-Fällen zwar zurückgegangen, allerdings weniger stark als der Anteil der Zehn- bis 14-Jährigen, die weiterhin normalen Präsenzunterricht hatten.

Trotz Distanz kein Rückgang

Für die Aufstellung hat das Ministerium die Kalenderwoche 43, in der in Salzburg und Tirol die Oberstufen ins Distance-Learning geschickt wurden, mit der darauffolgenden Herbstferienwoche verglichen. In diesem Zeitraum gab es in beiden Bundesländern einen deutlichen Anstieg der Covid-19-Positiven. Unter den Zehn- bis 14-Jährigen, die normalen Präsenzunterricht hatten, fiel er jedoch deutlich geringer aus als unter den 15- bis 19-Jährigen – und er blieb laut Ministerium insgesamt "deutlich unter dem Durchschnitt". "Es gibt also derzeit keinen Hinweis darauf, dass die Umstellung auf Distance-Learning etwas bringt", betont Strenger. Außerdem finden Kontakte von Kindern und Jugendlichen ja nicht nur in schulischen Einrichtungen statt, sagt er. Anders als bei einem kontrollierten Ablauf in den Schulen gebe es bei Freizeitkontakten keine Regeln, die vor Ansteckungen schützen. Strenger verweist in diesem Zusammenhang auch auf Daten aus Kärnten, wo im Zusammenhang mit den Schulferien die Zahl der Freizeitcluster unter Jugendlichen gestiegen sei.

Maske oder Homeschooling

Auch für die Mediziner der Österreichischen Gesellschaft für Kinderschutz-Medizin braucht es keine Schließungen, solange Präventionsmaßnahmen streng eingehalten werden. Insbesondere von den Jugendlichen "könne man diese ja verlangen". Das betrifft konkret das durchgehende Tragen von MNS-Masken von Lehrern, Jugendlichen und Kindern – "auch in den Klassen". Zudem könne man auch in vielen Klassen Schultische möglichst weit auseinander stellen und bei Reihen darauf achten, dass "zwischen den Schülerinnen und Schülern der Mindestabstand von einem Meter eingehalten wird".

Das Händewaschen oder Desinfizieren sei kein Hindernis und kann mehrmals täglich erfolgen, ebenso das häufige Lüften, das Vermeiden von Kontaktsportarten oder Musikunterricht ohne Singen. Aber auch "flexible Schulstart- und Endzeiten oder das Anbringen von Plexiglasscheiben" seien als Maßnahmen bisher noch nicht ausgeschöpft worden. "Das alles sind Maßnahmen, die uns bereits geläufig und gut umsetzbar sind. So kann der Unterricht gelingen." (Julia Palmai, 11.11.2020)