Der neue Bericht spielt Boris Johnson in die Hände.

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Dreijährige brauchten plötzlich wieder Windeln, ältere Kindergartenkinder hatten den Umgang mit Messer und Gabel vergessen, Grundschüler das kleine Einmaleins – ein neuer Bericht der englischen Schulaufsicht Ofsted zeichnet ein düsteres Bild der Lockdown-Folgen unter den Jüngsten der britischen Bevölkerung. Ohne Zweifel sei "Bildung verlorengegangen", und zwar besonders bei Kindern aus bildungsfernen Familien, betonte Ofsted-Chefin Amanda Spielman zu Wochenbeginn.

Damit lieferte die Behörde der konservativen Regierung von Premier Boris Johnson neue Munition für ihr Argument, im Lockdown 2.0 müssten Bildungseinrichtungen unter allen Umständen geöffnet bleiben.

Tatsächlich verfolgen Schulen und Universitäten seit Beginn der neuen, zunächst auf vier Wochen begrenzten Einschränkungen Anfang des Monats "business as usual". Das schließt die bisherige Vorsicht im Umgang mit Sars-CoV-2 ein: Wann immer Kinder oder Lehrkräfte positiv auf Covid-19 getestet werden, müssen ganze Schulklassen zu Hause bleiben. Der Unterricht erfolgt dann online, wenn die Unterschiede auch enorm sind. Im ersten Lockdown gelang es vielen Privatschulen, binnen weniger Tage den gesamten Stundenplan virtuell aufrechtzuerhalten; hingegen blieb die Bildungsversorgung in Staatsschulen lückenhaft.

Wales geht eigenen Weg

Der Kurs der für England zuständigen Zentralregierung unterscheidet sich vom Vorgehen in den kleineren Regionen. In Wales galt bis vergangenen Montag ein 17-tägiger Mini-Lockdown, der sogenannte Circuit Breaker. Dieser schloss die einwöchigen Herbstferien ein, auch in der zweiten Woche mussten Sekundarschulen für alle Jahrgangsstufen ab der 9. Klasse schließen. Die unteren Jahrgänge sowie Primarschulen blieben geöffnet.

Die liberaldemokratische Cardiffer Bildungsministerin Kirsty Williams gab am Dienstag eine weitere Konsequenz aus der Corona-Pandemie bekannt: Wie schon im vergangenen Schuljahr fallen auch im Sommer 2021 sämtliche zentrale Prüfungen aus. Diese sind normalerweise für die Jugendlichen der Jahrgangsstufen elf und gegebenenfalls 13 von zentraler Bedeutung, weil sie über die Vergabe von Studienplätzen entscheiden. Stattdessen werde ihr Ministerium ein belastbares System für Leistungsbewertung durchs Lehrpersonal finden, sagte die Ministerin der BBC.

In England werden Prüfungen verschoben

Im benachbarten England hält man hingegen an Prüfungen als "der fairsten Methode zur Beurteilung der Schüler" fest, betont ein Sprecher der Downing Street. Geplant ist lediglich eine Verschiebung der normalerweise Anfang Juni anstehenden Prüfungen um drei Wochen; dadurch soll im vergangenen Schuljahr versäumter Lehrstoff nachgearbeitet werden. Schottland geht den dritten Weg: Dort entfallen die Prüfungen für die 16-Jährigen, hingegen müssen die 18-Jährigen ihre Leistungen für die Highers – äquivalent zur Matura – auf herkömmlichem Weg nachweisen.

Zwar steht die Labour-Opposition unter dem Druck der mächtigen Lehrergewerkschaften; parteiübergreifend besteht aber in London die Entschlossenheit, Schulen und Unis auch weiterhin um beinahe jeden Preis offen zu halten. Denn die Bildungsexperten sind sich einig: Kinder aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien leiden am stärksten unter Schulschließungen. Oft fehlen ihnen Computer zur Teilnahme am virtuellen Unterricht, bei Hausaufgaben können die Eltern kaum helfen, in Immigrantenfamilien kommen sprachliche Probleme hinzu. (Sebastian Borger aus London, 11.11.2020)