In den Niederlanden wird Terrorprävention großgeschrieben. Dennoch kommt es zu Anschlägen, wie etwa 2019 in Utrecht.

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Er war ein ganz normaler Amsterdamer Junge gewesen. Doch als er vom Tod seines Großvaters in Marokko hörte, wurde er stiller und stiller, zog sich immer häufiger in sein Zimmer zurück. "Du bist keine gute Muslimin!", begann er seiner Mutter vorzuwerfen. Die machte sich zunehmend Sorgen und wandte sich schließlich an den Bezirkspolizisten in ihrem Stadtteil – denn den kannte sie gut, und dem vertraute sie auch.

Der Polizist informierte umgehend die städtische Radikalisierungsmelde- und Beratungsstelle. Dort wurde nach passender Hilfe für den "stillen Jungen" gesucht. Ein Kickboxtrainer, der als sogenannte "sleutelfiguur" (Schlüsselfigur) im Stadtviertel im Einsatz war, brachte den 17-Jährigen schließlich wieder auf die rechte Bahn: Er ließ ihn in seinem Klub trainieren, ging mit ihm zum Angeln und bewegte ihn dazu, sich zum Informatiktechniker ausbilden zu lassen.

"Radikalisierungsprävention wird bei uns großgeschrieben", erklärt Terrorexperte Jelle van Buuren von der Universität Leiden. "Wir Niederländer gehen das Problem sehr breit an. Wir setzen nicht nur auf Repression, sondern auch auf Früherkennung – da, wo Radikalisierung beginnt: in den Stadtvierteln."

Netzwerke an Kontaktpersonen

Großstädte wie Amsterdam haben deshalb ein Netzwerk an Kontaktpersonen aufgebaut, die als "Augen und Ohren" in den Vierteln unterwegs sind: Diese "ogen en oren" fangen Signale auf von Radikalisierung, sozialen Spannungen oder gar geplanten Anschlägen. Dabei geht es sowohl um Professionals wie Polizisten, Lehrer und Sozialarbeiter als auch um die sogenannten "sleutelfiguren": Mitbürger wie Sporttrainer oder Imame, aber auch Mütter und Väter mit Einfluss. Mehr als 200 sind in den letzten fünf Jahren allein in Amsterdam ausgebildet worden.

Auslöser war das Attentat auf den islamkritischen Amsterdamer Regisseur Theo van Gogh, der im November 2004 von einem islamistischen Extremisten auf offener Straße ermordet worden war – ein Schock, der die bis dahin von Terror verschonte niederländische Gesellschaft regelrecht aus den Angeln gehoben hatte. "Ich will wissen, was in den Vierteln läuft!", sagten sich damals die Bürgermeister der beiden größten Städte Amsterdam und Rotterdam – und machten sich auf die Suche nach "Augen und Ohren".

Noch bevor eine Krise eintrifft

Die Zusammenarbeit mit ihnen hat jede Stadt auf ihre Weise geregelt. Rotterdam kennt ein "Sicherheitshaus", in dem alle Informationen zusammenlaufen, Amsterdam eine Melde- und Beratungsstelle. Andere Städte sind dem Beispiel von Utrecht gefolgt, wo regelmäßig Treffen der "Bondgenoten" (Bündnispartner) stattfinden. Dann setzen sich Vertreter von Polizei und Gemeinde mit Lehrern und Imamen, Eltern oder dem Trainer des lokalen Fußballklubs an einen Tisch, immer ganz informell und immer zum Essen: "Weil auf diese Weise Vertrauen entsteht, noch bevor eine Krise eintritt – und das ist wichtig!", sagt Professorin Beatrice de Graaf, Historikerin und Terrorismusforscherin an der Universität Utrecht.

Dadurch funktioniere das niederländische System der lokalen Präventionsprogramme – "nicht immer, aber oft". Verschiedene Anschläge hätten bereits verhindert werden können, eben weil sich besorgte Eltern oder Lehrer rechtzeitig an die Behörden gewandt hatten: "Was sie nur machen, wenn sie Vertrauen haben."

In Frankreich wird gespart

In Frankreich sei dieses Vertrauen auf der Strecke geblieben: Emmanuel Macrons Vorgänger Nicolas Sarkozy habe bei der lokalen Polizei Einsparungen durchgeführt und zu sehr darauf gesetzt, die Muskeln spielen zu lassen mit der Schaffung schwerer Interventionseinheiten: "Die sind zwar auch nötig – aber nicht nur." Daneben brauche es "contacts on the ground".

Gerät eine Person in den Niederlanden durch diese Kontakte ins Visier der Deradikalisierungsbehörden, steht denen ein ganzer Instrumentenkoffer zur Verfügung: Sie können psychologische, pädagogische oder religiöse Hilfe leisten, Sporttrainer einsetzen, Schulden erlassen, Jobs oder Ausbildungen vermitteln. "Persoonsgebonden aanpak" heißt diese auf die jeweilige Person zugeschnittene Behandlung, die auf Antiterrorismus-Kongressen gerne als leuchtendes Vorbild präsentiert wird.

Niederländische Terrorismusforscher allerdings warnen vor einer Heiligerklärung ihres Landes. Erstens wegen der vergleichsweise guten Ausgangsposition: "Wir kennen hierzulande faktisch keine unüberschaubaren Banlieues oder No-Go-Areas", betont Professorin de Graaf. "Das macht einen enormen Unterschied."

Zweitens seien die Niederländer mit ihrem "persoonsgebonden aanpak" an ihre Grenzen gelangt: "Ein harter Kern von rund 500 potenziellen Terroristen ist übriggeblieben und dagegen immun", sagt Terrorexperte Jelle van Buuren. Bei denen helfe nur eines: konstante Überwachung.

Trotzdem Anschläge

Doch das gelingt nicht immer, auch in den Niederlanden kommt es zu Anschlägen – zuletzt 2019 in Utrecht, wo ein Islamist in einer Straßenbahn um sich schoss, vier Menschen tötete und sechs verletzte.

Für Straftäter wie ihn wurde ein Spezialteam aus Resozialisierungs- und Bewährungshelfern geschaffen, die sich immer zu zweit um einen Häftling kümmern – während der Haft und danach. Dabei wird mit typisch niederländischem Pragmatismus auf Verhaltensänderung gesetzt und versucht, die Verurteilten aus ihrem Netzwerk herauszulösen: mit einem neuen Job, Kontaktverboten oder dem Umzug in eine andere Stadt. "Die Ideen aus ihren Köpfen herauszubekommen hat nicht unsere Priorität, da können wir allerhöchstens Zweifel säen", sagt Bart Schuurman, Assistenzprofessor an der Universität Leiden.

Die Rechnung scheint aufzugehen, denn die Rückfallsquote beträgt lediglich 4,4 Prozent – so das Ergebnis einer Studie von Schuurman als Teil eines Forscherteams im Auftrag der nationalen Antiterrorbehörde NCTV. Zum Vergleich: Von allen Verurteilten zusammen wird in den Niederlanden fast jeder zweite rückfällig.

Werben für den Jihad im Jugendamt

Doch auch die niederländischen Deradikalisierungsexperten sind nicht gegen Lügen gefeit: So hat in Amsterdam ein angeblich deradikalisierter Islamist, der wegen seiner Vorbildfunktion eine Stelle beim Jugendamt bekam, weiterhin versucht, junge Männer als Jihadkämpfer zu werben. In Arnheim plante ein verurteilter Jihadist 2017 sogar einen Anschlag, nachdem er den Richter überzeugt hatte, "bekehrt" zu sein.

So weit die schlechten Nachrichten. Die guten: Der Islamist am Amsterdamer Jugendamt konnte entlarvt und der in Arnheim geplante Anschlag mithilfe eines Polizeigroßeinsatzes verhindert werden. In beiden Fällen dank der Hinweise besorgter Eltern und Lehrer – der "ogen en oren" der Stadtviertel. (Kerstin Schweighöfer aus Den Haag, 11.11.2020)