Religionen kommen und gehen. Das war immer schon so. Sie schwanken freilich in ihrer Ausbreitung. Das hatte in der Geschichte meist mit Eroberungen und untergehenden Reichen sowie Missionarskampagnen zu tun – aktuell fluktuiert die Anhängerschaft verschiedener Glaubensrichtungen eher mit Skandalen, unterschiedlich starkem Bevölkerungswachstum und dem technologischen sowie wissenschaftlichen Fortschritt.

Immer öfter finden Wissenschafter Dinge heraus, die sich über Jahrtausende nicht erklären ließen, und untergraben damit eine ureigene Funktion von Religion. Und obwohl wir ganz genau wissen, wie etwa ein Erdbeben entsteht und dass es sich dabei nicht um Gottes Strafe handelt, wurden die Überlebenden in der besonders hart getroffenen Region Christchurch, Neuseeland, einer Studie zufolge seit dem großen Beben von 2011 deutlich religiöser als ihre Mitbürger in anderen Landesteilen – bei ihnen nahm die Religiosität wie in den meisten hochentwickelten Industrieländern sogar ab.

Der Islam ist anteilsmäßig die einzige der großen Religionen, die prozentuell schneller wächst als die Erdbevölkerung als Ganzes.
Foto: Pew Research Center

Das Gefühl in Europa täuscht trotzdem nicht. In reichen Weltregionen steigt der Anteil Nichtgläubiger tatsächlich stark. Sogar in den USA, die lange Zeit eine Ausnahme zu dieser Regel bildeten, gewinnen Nichtgläubige zusehends an Boden. Bis Mitte des aktuellen Jahrhunderts soll der Anteil Gläubiger einer Prognose von Pew Research zufolge global insgesamt dennoch von 84 Prozent auf rund 87 Prozent ansteigen. Der Grund dafür liegt vor allem auch am höhen Bevölkerungswachstum Afrikas, wo besonders viele Muslime und Christen leben. Muslime sollen dieser Prognose zufolge zum Anteil an Christen weltweit aufschließen. Die Welt wird mittelfristig also nicht wirklich säkularer, auch wenn der berühmte US-Religionssoziologe Peter Berger schon 1968 die Marginalisierung aller Weltreligionen auf ein paar Sekten um die vergangene Jahrtausendwende hin prognostizierte.

Weniger Politik

Ist es aber tatsächlich auch in Zukunft nur ein Aufteilen des Kuchens zwischen den großen großen Religionen der Welt, den Millionen von Atheisten und Agnostikern und den geschätzt rund 10.000 kleinen Religionen? Neue Religionen werden oftmals als Kult abgewiesen, bis diese anerkannt werden und ihre Traditionen als zeitlos und sakrosankt gelten, schreibt der BBC-Journalist Sumit Paul-Choudhury. Sterben Religionen, verblassen ihre heilige Schriften und werden zu Mythen – irgendwann sind sie nicht mehr als reine Legenden.

Für die britische Religionswissenschafterin Linda Woodhead war und ist es aber gerade die politische Unterstützung, die es stets vermochte, Religionen erst groß zu machen. Diese sieht sie jedoch zusehends abebben. Religionen würden vor allem dann funktionieren, wenn sie die persönliche Sichtweise eines Einzelnen unterstützen und untermauern, so Woodhead. Religionen würden aber immer häufiger als kulturelles Futter wegbrechen und durch soziale Bewegungen ergänzt oder gar ersetzt werden, glaubt Woodhead.

Neue "Religionen"

Besonders bestärkt wirkt dieser Trend durch das Internet. "Tatsächlich finden sich zahlreiche neue religiöse Bewegungen, die durch ihren professionellen Umgang mit neuen Technologien besondere Strahlkraft entfalten konnten", sagt auch Professor Lukas Pokorny, Vorstand des Instituts für Religionswissenschaft an der Universität Wien.

Digitalisierung in der Kirche.
Foto: imago images

Neben Religionen, sprechen manche oftmals auch von einer Art religiösen Auslegung wirtschaftlicher Überzeugungen wie dem Kapitalismus oder dem Kommunismus. Tatsächlich können sich heutzutage aber auch soziale Phänomene und Bewegungen rasant über dem Erdball ausbreiten und mittel- bis langfristig etablieren. Häufig genannte rezente Beispiele sind etwa die #MeToo-Bewegung oder jene der Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, angespornt durch die Fridays-for-Future-Bewegung.

Zwar sind diese per se natürlich keine Religionen, erfüllen aber "funktionelle Ziele von Religionen, wie Gemeinschaftsgefühl und einen gemeinsamen Zweck. Manche von ihnen haben gar konfessionelle und sakrale Elemente", schreibt Paul-Choudhury. Pokorny warnt diesbezüglich vor Generalisierungen. Grundsätzlich seien "bestimmte Akteure und soziale Strömungen aber selbstverständlich religiös motiviert" beziehungsweise könnten sie zumindest religionswissenschaftlich erforscht oder charakterisiert werden.

Wenn auch mit einer ordentlichen Prise Humor und Sarkasmus versehen, hat sich mit den "Zeugen der Klimatologie" auch schon tatsächlich eine derartige Religionsgemeinschaft gegründet. Nach Jahren erfolglosen Kampfes gegen die Klimakrise, sahen sie nur in einer Religion die nötige moralische Gesinnungsgemeinschaft, die über Generationen hinweg kontinuierlich Aktionen setze, um die Menschheit dauerhaft am Leben zu erhalten. Sie verbinden dabei gängige Feiertage aus bekannten Religionen und nationalen Ritualen mit umweltpolitischen Themen. An "Gegenteil-Weihnachten" werden Bäume gepflanzt, anstatt sie als Christbäume zu roden. An Halloween werden nicht Süßigkeiten, sondern alte Batterien gesammelt.

KI und Religion

Eine etwas größere Followerschaft und das nicht nur mehr in einschlägigen Foren und verwinkelten Ecken des Internets erreichen aber mittlerweile jene Religionen, die rund um die Erschaffung einer Künstlichen Intelligenz – dem vielzitierten Zeitpunkt der Singularität – kursieren. Dann wenn die menschliche Intelligenz von der künstlichen übertroffen wird, sei es klüger auf der richtigen Seite zu stehen, heißt es quasi – auch dann, wenn diese grundsätzlich uns Menschen gegenüber positiv gestimmt sei.

Der Grundtenor ist das, was unter dem etwas abstrusen, aber durchaus interessanten Gedankenexperiment namens "Rokos Basilisk" bekannt ist und nicht zuletzt aufgrund seiner Verbannung aus gewissen Internetforen durch den Streisand-Effekt zu noch mehr Berühmtheit führte. Falls sie sich vor der ewigen Verknechtung durch eine superintelligente KI fürchten, hören Sie besser nun sofort auf zu lesen. Dem Gedankenexperiment zugrunde liegt nämlich die Theorie, dass eine gutgesinnte künstliche Intelligenz möglichst viel Positives in der Welt verbreiten könnte. Je früher dieser Zeitpunkt eintritt, desto besser sei dies für die Welt und ihre Bewohner, deshalb sollten alle Menschen zur Erschaffung dieser KI schnellstmöglich und mit größtem Einsatz beitragen. Jene, die das wissentlich unterlassen, werden in Form einer digitalen Kopie ihres Geistes (sofern genug Onlinedaten bekannt sind) nach ihrem physischen Ableben digital auferweckt und als abschreckendes Beispiel für künftige Generationen bestraft.

Sophia ist noch sehr weit davon entfernt, eine tatsächliche KI zu sein. Ihre Antworten zu Religion sind dennoch spannend.
Inventions World

Abgesehen von diesem doch recht skurrilen Beispiel haben sich in den vergangenen Jahrzehnten rund um die streitbaren, aber durchaus exzellenten Köpfe der KI-Forschung einige kirchenähnliche Strukturen gebildet, wenngleich diese manchmal mit einem Augenzwinkern zu verstehen sind. Anthony Levandowskis "Way of the future" etwa will sich einer sanften Transition hin zu einer Welt, regiert von superintelligenten Maschinen, unterwerfen. Yuval Noah Hararis Anhänger schwören auf dessen Dataismus, und wiederum andere sehen in transzendenten Supermenschen mit "upgeloadetem" Hirn das ewige Paradies.

Getaufte Marsianer

Nun ist es freilich leicht, dies als Hirngespinste von ein paar Nerds im Internet abzutun. Nicht zu unterschätzen sind aber einerseits die Warnungen zahlreicher führender Intellektueller vor der Erschaffung einer KI, wie etwa Bill Gates, Stephen Hawking oder Noam Chomsky, und andererseits die Auswirkungen eines wahrlich intelligenten Systems auf die anderen großen Religionen der Welt. So wird im Christentum etwa der Mensch als die auserwählte Spezies betrachtet, die kraft ihrer Seele zu einem Individuum wird, das nicht zwangsläufig an seinen oder ihren irdischen Körper gebunden ist. Was also, wenn der Mensch ein intelligentes Etwas erschafft? Kann das eine Seele haben?

Der Papst hat durchaus Interesse an KI. Einen Marsianer würde er taufen, eine KI auch?
Foto: APA/AFP/ANDREAS SOLARO

2014 antwortete Papst Franziskus auf die Frage, ob er denn einen Marsianer/Außerirdischen taufen würde, dass wir bestimmt nicht diejenigen sein sollten, die sich über ein solch offensichtliches göttliches Zeichen stellen – sofern es der fremde Besucher denn wolle. Gott würde schon seine Gründe dafür haben, meinte er sinngemäß. Würde dieser katholischen Logik folgend also auch die KI ein Geschenk Gottes darstellen und als solches behandelt werden müssen?

Vor wenigen Tagen äußerte sich Papst Franziskus erneut zum Thema künstliche Intelligenz. Sie liege "im Kern jenes epochalen Wandels, den wir gerade erleben". Die Technologie müsse aber dem Guten dienen, so der Papst. Wenn es KI und Robotik nicht gelinge, Ungleichheiten auszubügeln, sei es kein wahrer Fortschritt. Neue Technologien müssten immer die Würde des Menschen respektieren.

Neue Wege

Klar scheint, dass Religion in Zeiten von Maschinenlernen und immer schlaueren Algorithmen zahlreiche neue Facetten dazuzubekommen scheint – auch wenn letzten Endes ihre Ziele und Strukturen dem ähneln, was wir immer schon mithilfe der Religion erreichen oder kompensieren wollten. Trotz alledem scheint sich Religion allmählich von einer Art "Opium der Massen" hin zu einem Feinkostladen zu entwickeln, wo sich Menschen immer öfter das herauspicken, was sie sich gerade von der Religion, ihrem Glauben oder ihrer Kirche erhoffen. Ein Zufluchtsort hier, ein Gemeinschaftsgefühl da, Trost oder Hoffnung dort.

Pokorny geht zumindest mittelfristig "tendenziell weiterhin von einer zunehmenden Ausdifferenzierung aus". Die bereits sehr reiche Palette an religiösen Angeboten werde noch beeindruckender, und speziell im alternativreligiösen Feld dürfte es zu noch mehr Schnelllebigkeit kommen, so der Religionswissenschafter.

Neue Ideen und Splittergruppen gab es schon immer. Durch das Internet als maximalen Multiplikator haben Religionen oder solche, die es noch werden wollen, aber eine riesige neue Bühne dazubekommen. Wer früher für seine Ideen als Spinner abgetan wurde, stößt heute vielleicht auf eine riesige Community, die sich für neue Wege der Religiosität oder Spiritualität offen zeigt. Das schafft Konkurrenz am Basar der tausenden Religionen und führt mitunter zu ein wenig Unübersichtlichkeit. Ich und all jene, die bis hierhin gelesen haben, können sich zumindest damit trösten, dass wir durch die hinterlassenen Spuren im Internet zur Ausbildung schlauerer Algorithmen und damit zur Erschaffung der allmächtigen künstlichen Intelligenz beigetragen haben. Vielleicht ist sie dadurch gnädig gestimmt. (Fabian Sommavilla, 13.11.2020)