Angesichts explodierender Corona-Zahlen in Altersheimen ist es verlockend, der Bundesregierung vorzuwerfen, sie habe die Lage unterschätzt und den Rückgang der Infektionen im Sommer nicht dafür genutzt, um für mehr Sicherheit zu sorgen. Doch dieser Vorwurf greift zu kurz. Es war richtig von Gesundheitsminister Rudolf Anschober, erst auf Empfehlungen zu warten. Immerhin ist kein Heim wie das andere, hier sind vor allem die Länder gefragt.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen nicht nur pflegen, sondern all die Betreuungsaufgaben übernehmen, die vorher Angehörige geleistet haben.
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Viel schwerer wiegt, dass diese und frühere Regierungen es verschlafen haben, die Situation der Pflegebranche insgesamt in den Griff zu bekommen. Ein eklatanter Personalnotstand herrscht nicht erst seit der Pandemie, sondern seit Jahren.

Nun zeigt sich, wie gravierend sich diese Vernachlässigung auswirkt: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind bei Erkrankungen im Personal mit Ausfällen konfrontiert, die sie nicht kompensieren können. Gleichzeitig liegt eine schwere Zusatzlast auf ihnen: Sie müssen nicht nur pflegen, sondern auch Besucherströme und Testungen koordinieren und all die Betreuungsaufgaben übernehmen, die vorher Angehörige geleistet haben, die gar nicht oder nur seltener kommen dürfen.

Dass die Politik erst eine Pandemie brauchte, um ihr Augenmerk auf diese Mängel zu richten, ist tragisch. Und dass sie nun, nach Monaten dieser Extremsituation, noch nicht einmal erste Schritte gesetzt hat, um mehr Anreize zu schaffen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern, ist eine Verfehlung. (Gabriele Scherndl, 11.11.2020)