Bleiben bald alle Klassenzimmer wie im ersten Lockdown im Frühjahr verwaist? Experten und Lobbys erheben Einspruch.

Foto: Imago Images / Action Pictures

Je näher der Stichtag, umso hitziger die Diskussion: Bis Freitag will die Regierung anhand der jüngsten Infektionszahlen entscheiden, ob der Lockdown verschärft wird. Allzu viele Möglichkeiten bleiben nicht mehr. ÖVP und Grüne könnten die Geschäfte zusperren – oder die Schulen nun auch für alle unter 14-Jährigen schließen.

Die Front verläuft nicht nur durch die Fachwelt und die sozialen Medien, sondern auch quer durch die Regierung. Türkise wie grüne Stimmen aus dem Regierungsapparat bestätigen, dass Kanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz für den Schulschluss plädiere. Auf der Gegenseite stehen die Grünen mit Gesundheitsminister Rudolf Anschober, bisher aber auch Bildungsminister Heinz Faßmann, ein Parteifreund Kurz’. Ausschließen wollte Faßmann diese Ultima Ratio am Mittwoch aber nicht: Dies sei nicht seine Angelegenheit, "sondern eine Sache des Gesundheitsministers in Zusammenarbeit mit der Regierungsspitze".

Unter den Zurufen von Außen haben die Contra-Stimmen längst die Überhand gewonnen. Heftige Gegenreaktionen ausgelöst hat jener Aufruf von vier hochrangigen, aber fachfernen Wissenschaftern Anfang der Woche, die Schulen zu schließen. Sollte es sich dabei, wie ein ins Krisenmanagement der Regierung involvierter Experte vermutet, um eine mit dem Kanzleramt konzertierte Aktion gehandelt haben, dann ist der Schuss nach hinten losgegangen.

Fragwürdige Modelle

"Mittels höchst fragwürdiger Modelle und unter Berufung auf nicht nachvollziehbare Quellen" werde offenbar versucht, den "Schullockdown" herbeizureden, kritisiert die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ). In den wissenschaftlichen Erkenntnissen finde sich kein Hinweis, dass Kinder bei Covid-19 "Treiber" seien und Schulschließungen die Situation günstig beeinflussen könnten, sagt ÖGKJ-Chefinfektiologe Volker Strenger von der Uni Graz. Wenn es an Schulen zu Ansteckungen komme, dann verliefen diese viel häufiger von den Erwachsenen zu den Kindern als umgekehrt: "Das wird oft, auch von Fachkollegen, falsch wiedergegeben."

Strenger zitiert eine Statistik der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages), die bei den Jüngsten den geringsten Anstieg ausweist. So stieg die Zahl der wöchentlichen Corona-Infektionen seit der letzten Ferienwoche bei den unter Sechsjährigen um 456 Prozent, bei den Sechs- bis Neunjährigen um 416 Prozent und bei den Zehn- bis 14-Jährigen um 1200 Prozent. Die 35- bis 39-Jährigen kamen hingegen auf plus 2026 Prozent, die 45-bis 49-Jährigen auf plus 2240 Prozent. In den letzten beiden Wochen war bei den Unter-14-Jährigen sogar praktisch eine Stagnation der Infektionszahlen zu verzeichnen.

Nur halbes Risiko bei Kindern

Lockdown-Gegner nennen überdies eine Reihe von internationalen Untersuchungen. Eine Metaanalyse von 32 Studien zeigt, dass Kinder unter 14 Jahren nur etwa das halbe Risiko von Erwachsenen haben, am Virus zu erkranken. Dem Chinese Center for Disease Control and Prevention zufolge liegt die Wahrscheinlichkeit der unter Zehnjährigen, symptomatisch an Covid-19 zu erkranken, bei einem Prozent, ebenso bei Zehn- bis 19-Jährigen. Bei 20- bis 29-Jährigen steigt die Quote auf acht Prozent, bei 39- bis 79-Jährigen auf 87 Prozent.

Auch die Erfahrungen aus den nordischen Ländern werden als Beleg gehandelt. Obwohl Schweden Kindergärten und Schulen im Frühjahr nicht geschlossen hat, seien die Infektionszahlen nicht höher ausgefallen als im benachbarten Finnland, das einen Bildungslockdown verhängt hatte.

In den Schulen seien die Kontaktpersonen im Ansteckungsfall viel leichter zu verfolgen als anderswo, argumentiert Thomas Szekeres, Präsident der Ärztekammer. Statt zusperren zu müssen, sollten die Schulen lieber die Präventionsmaßnahmen ausschöpfen, etwa: Maskenpflicht für Lehrer auch außerhalb der Klasse, höhere Mindestabstände, Plexiglasscheiben, unterschiedliche Start- und Endzeiten für die Klassen.

Ein Mittel in spe für die Aufrechterhaltung des Präsenzunterrichts hat Minister Faßmann selbst präsentiert: Mobile Teams sollen bei Verdachtsfällen an den Schulen mit schnellen Antigentest künftig innerhalb von Minuten für Klarheit sorgen.

Einspruch von Caritas bis Wirtschaft

Der Einspruch geht weit über die medizinische Fachwelt hinaus, er reicht von der Caritas, die einen weiteren Rückfall sozial benachteiligter Kinder fürchtet, bis zu den Landesregierungen und der Wirtschaftskammer, die große Probleme auf Beschäftigte und Betriebe zukommen sieht – speziell für Ein-Personen-Unternehmerinnen.

Wird die Regierung die Einwände erhören? In Koalitionskreisen sind unterschiedliche Prognosen zu hören. Während eine Stimme aus der grünen Führungsriege versichert, dass die Volksschulen und Unterstufe bis über den Freitag hinaus offen blieben, heißt es von anderer – türkiser – Seite: Der Anstieg der Infektionen werde keine andere Wahl als die Schließung lassen.

Ventiliert wird allerdings auch die Möglichkeit einer Teillösung, etwa: Volksschulen bleiben offen, Unterstufen sperren zu. Außerdem stellt sich die Frage, ob gleichzeitig der Handel offen bleiben darf. Statt in die Schule ab ins Shoppingcenter? Das wäre wohl schwer zu argumentieren.

Fix scheint momentan aber nur eines: Die Entscheidung ist noch nicht gefallen. (Gerald John, Julia Palmai, 12.11.2020)