Im Handel nicht zu erwerben, außer es wird dort gratis verteilt: das Aktionsbuch "29 Kurzgeschichten aus Wien".

Foto: Stefan Burghart

Wenn es doch so einfach wäre wie in Stefan Slupetzkys Erzählung Bummabunga über eine gleichnamige neue Seuche! Nicht per Aerosole, sondern als "Menschen, die mit ungeheurem Schwung auf andere Menschen losstürzten, um ihre Zähne in Hälse und Schultern, Schenkel und Waden zu schlagen", hat sie sich schon über die halbe Welt ausgebreitet, als sie auch Wien erreicht. Dort sitzt Slupetzkys lauriger Held Pepper in seinem Stammcafé Schikkermandl und verfolgt die Entwicklungen auf Videos aus dem Internet: "Blutfontänen spritzten durch die Luft." Nun legen unsere internationalen Impfstofflabore auf der Suche nach einem Corona-Mittel eh Tempo vor, aber noch schneller geht es bei Slupetzky. Nur einige trashig-saftige Beschreibungen später nämlich kennt man ein Gegenmittel: einen g’sunden Rausch von 1,5 Promille.

Genauere Informationen, mit welchem Schnapspegel man es geschützt über die Nachtruhe schafft, finden sich in 29 Kurzgeschichten aus Wien, dem diesjährigen Titel der Wiener Gratisbuchaktion Eine Stadt. Ein Buch. Ab heute werden an 230 Standorten in der ganzen Stadt 100.000 kostenlose Exemplare des Bandes abgegeben. Für weiteren Thrill sorgt darin Andreas Pittler, der im Polizeimilieu die vielbeschworene Gemütlichkeit an Schludrigkeit grenzen lässt. Kurt Palms Held findet im Haus des Meeres ein makabres Ende.

Aus den Händen gerissen

Vor 19 Jahren zum Zweck der Leseförderung einem Projekt in Chicago nachempfunden, bedeutete Eine Stadt. Ein Buch bisher die Gratisverteilung von Büchern internationaler Bestsellerautoren an Wiener. Die Nobelpreisträger Imre Kertész, Mario Vargas Llosa und Toni Morrison waren darunter ebenso wie T. C. Boyle, Nick Hornby oder Hilary Mantel.

Ein Erfolgsprojekt, freut sich Helmut Schneider, Geschäftsführer des die Aktion veranstaltenden Verlags Echomedia. Sponsoren sind die Stadt, Wien Energie und die Bank Austria. Gesamtkosten kann Schneider aber nicht nennen. Die Sorge, ob man alle Bücher anbringe, habe sich jedenfalls schon in Jahr eins als unbegründet erwiesen. Seither ist das Verteilernetz – Volkshochschulen, Bibliotheken, Buchhandel – gewachsen. Inzwischen hätten aber Wiener Autoren das Gefühl geäußert, "das geht an ihnen vorbei", sagt er. Deshalb die 29 in Auftrag gegebenen Kurzgeschichten.

Eine Stadt. Ein Buch bedeutet heuer deshalb auch Texte über die Stadt: Bodo Hell liefert eine Ortsbegehung des Leopoldsbergs und taucht dabei in dessen Geschichte ab. Thomas Brezina entwirft eine neue Tourismus-Werbekampagne für Wien. Barbi Marković erzählt von einer gruseligen Nacht in einem Wiener Krankenhaus. Julya Rabinowich hadert mit der antisemitischen Vergangenheit. In einem der gelungensten Texte nimmt uns Verena Mermer mit zum Praterstern.

Unterleibsziehen und Züge

"In Angelikas Unterleib zieht und blubbert es", schreibt Mermer über ihre Protagonistin, die sich spätabends noch "Super-Plus-Tampons" besorgen muss, damit es kein "Blutbad" gibt. Da gibt es aber auch Paul, der vor drei Jahren wegen der großen Liebe nach Gänserndort hinausgezogen ist – und über deren Erkalten er nun beim Bahnfahren nachdenkt. Unruhe begleitet auch Adnan und Ilya aus Floridsdorf, brave Burschen, denen Polizisten trotzdem oft skeptisch nachschauen. Sie alle gibt es oder könnte es geben.

Mermer gelingen schön beobachtete Szenen urbanen Lebens. Von Thomas Stangl haben es verträumte Miniaturen in den Band geschafft. Bettina Balàka lässt eine gendersensible Mutter und eine davon genervte Tochter aufeinandertreffen. Corona aber durchzieht viele der 368 Seiten. Es beschäftigt Theodora Bauers einsame Protagonistin ebenso wie Doris Knecht: In Der Hund schafft sich ein Paar einen Welpen nur an, um in der dauernden Anwesenheit des anderen im Lockdown einen Puffer zwischen sich zu bringen. Muss schiefgehen!

Der Plan zum Buch ist allerdings älter als die Pandemie. Die Schreibaufträge waren also nicht als Hilfe für die von Lesungsausfällen gebeutelte Szene gedacht, auch wenn das nun ein positiver Nebeneffekt ist, wie Schneider sagt. Wobei der neue Lockdown einen Strich durch diese ohnehin sparsame Kalkulation macht: Mit 250 Euro je Text ist das Honorar schmal. Über Lesungen hätten Autoren dazuverdienen sollen, die fallen nun aber aus. Die Arbeit ist so nicht entlohnt; dass die hohe Auflage ein Anreiz war, mitzutun, räumen aber manche Autoren ein, Stichwort Werbewert. Möge immerhin diese Rechnung aufgehen. (Michael Wurmitzer, 13.11.2020)