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Lernen, wie man das Gleichgewicht hält, wie man sich beim Klettern und Schaukeln koordiniert – und was man mit seinen Fingern alles machen kann: Viele Kinder brauchen dafür ergotherapeutische Unterstützung. Stadt und Gesundheitskassa fördern das zum Teil.

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Leon will nicht sprechen. Egal was seine Eltern anstellen, wie sie ihn locken und ermuntern, um ihn zu ein paar Worten zu animieren – Leon spricht einfach nicht.

Anfangs waren sie noch unbesorgt, dachten, er sei halt einfach ein "Spätzünder". Doch langsam wird's den Eltern unheimlich, Leon ist bald vier Jahre alt. Alle anderen Kinder in der Spielgruppe sprechen schon, die meisten schon in ganzen Sätzen. Nur Leon nicht.

Der Kinderarzt überweist die besorgten Eltern schließlich ins Zentrum für Frühförderung der Wiener Sozialdienste (ZEF). Die dortige Ärztin begutachtet Leon lange, und nach mehreren Stunden Untersuchung und Spieltherapie halten die Eltern endlich die Diagnose in der Hand: Leon leidet unter einer auditiven Wahrnehmungsstörung. Das bedeutet: Der Kleine kann zwar gut hören, seine Ohren funktionieren einwandfrei. Er kann das Gehörte aber nicht gut verarbeiten, es sich nicht gut merken. Das ist ein Hindernis beim Sprechenlernen. Auf die Diagnose folgt die Therapieempfehlung: Ergotherapie, Logopädie, sensorische Integration. Weil Leons Eltern über ein geringes Einkommen verfügen, wird die Therapie gleich vor Ort, im ZEF, angeboten – auf Krankenschein, ohne Selbstbehalt.

2.500 Kinder gefördert

Bis zu 2.500 kleine Menschen wie Leon, mit Entwicklungsstörungen oder -verzögerungen, werden auf diese Weise derzeit in Wien gefördert. An insgesamt vier Standorten wird Frühförderung angeboten, zusätzlich gibt es noch die mobile Frühförderung, wenn Kinder mit besonderen Bedürfnissen zu Hause gefördert werden müssen. Das Instrument der Frühförderung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Je früher es gelingt, Kinder zu unterstützen und Defizite auszugleichen, desto günstiger sind später ihre schulischen Erfolgsaussichten – und desto weniger muss man sie in späteren Jahren mit deutlich aufwendigeren Methoden und Mitteln unterstützen. Kleinkindern das Sprechen beizubringen, zeitigt schnellere und größere Erfolge als etwa bei Schulkindern. Lernt ein Kind in der Ergotherapie, sein Gleichgewicht zu finden, sich grob- und feinmotorisch besser zu koordinieren, dann wird es sich später beim Schreibenlernen leichter tun.

Finanziert wird die städtische Frühförderung vom Fonds Soziales Wien, der sich zu gleichen Teilen aus dem Wiener Gesundheits- und Sozialbudget und Mitteln der Österreichischen Gesundheitskassa (ÖGK) refinanziert. Wer keinen Therapieplatz im ZEF bekommt, muss sich die Therapien privat organisieren. Das ist auf Dauer kostspielig – die Kassa refundiert nur einen geringen Anteil.

Zu viel Nähe

Die Corona-Pandemie hat freilich auch bei der kindlichen Frühförderung in Wien einiges verändert. Als der erste Lockdown im Frühjahr ausgerufen wurde, mussten auch viele Therapien vorläufig eingestellt werden – zu viel Körperkontakt, zu große Nähe zwischen den kleinen Patienten und deren Ärztinnen und Therapeutinnen.

Die Stadt Wien hat daraufhin einige Therapeutinnen, die von der Magistratsabteilung 15 an das ZEF verliehen waren, wieder abgezogen. Sie wurden beim Krisentelefondienst der Stadt gebraucht. In den Frühförderzentren kam es dadurch nach Aufhebung des Lockdowns im Frühling zu Engpässen: Therapien mussten verschoben, die Eltern kleiner Patienten auf unbestimmte Zeit vertröstet werden. Eine Mutter schlug daraufhin gleich an mehreren Stellen Alarm: Ihr Kleinkind leidet an einer Cerebralparese, jede zusätzliche Woche ohne Therapie könne zu irreparablen Bewegungsstörungen führen, schrieb sie verzweifelt an mehrere Stellen – auch an den STANDARD.

Normaler Betrieb

Mittlerweile, beteuert Gisela Kersting-Kristof, habe man das Problem behoben: Die Therapeutinnen seien wieder an ihre Arbeitsplätze in den Frühförderzentren zurückgekehrt, sagt die Geschäftsführerin der Wiener Sozialdienste. Der Betrieb laufe wieder normal, Therapien würden regelmäßig durchgeführt. Neue Patienten würden vorläufig aber nicht aufgenommen, der Andrang sei zu groß.

Kersting-Kristof rechnet damit, dass der Bedarf an Frühförderung nach dem Ende der Corona-Pandemie noch wachsen werde: "Die Herausforderungen für Familien sind riesig, viel ist auf der Strecke geblieben." Vor allem auch im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie gebe es riesigen Bedarf, sagt sie. Aber: "Wir bekommen keine Ärzte." Erschwerend hinzu kommt die notorisch angespannte Budgetsituation. Rund acht Millionen Euro Budget pro Jahr bekommen die Frühförderzentren der Wiener Sozialdienste. Seit zwei Jahren wurde dieser Betrag eingefroren – sowohl von der Stadt als auch von der Gesundheitskassa. "Das ist ein Problem", sagt Kersting-Kristof, "wir brauchten mehr Mittel."

Verpasste Chancen

Sei daran gedacht, diesen Betrag merkbar zu erhöhen, um negative Pandemiefolgen bei vielen Kleinkindern einigermaßen auszugleichen? "Da gibt es derzeit keine konkreten Pläne", heißt es im Büro von Gesundheitsstadtrat Peter Hacker. Auch bei der ÖGK winkt man vorerst ab: "Wir prüfen jährlich, wie hoch der Bedarf ist, und vereinbaren dann ein Jahresbudget", sagt der zuständige ÖGK-Abteilungsleiter Franz Kiesl. Dass die Geldmittel zu lange schon eingefroren wurden, will Kiesl so nicht stehen lassen. Seit 2015 habe sich die Zuzahlung der ÖGK um mehr als zehn Prozent erhöht, sagt er. Nur im heurigen Jahr nicht – "das hat mit Corona zu tun, im Lockdown konnten nicht alle Leistungen angeboten werden".

Kiesl betont, ihm sei die Förderung wichtig: "Wir investieren jährlich mehr als 3,5 Millionen Euro in den Wiener Verein zur Frühförderung." Auf eine grundsätzliche Erhöhung dieser Mittel, damit mehr Kinder die Chance haben, Entwicklungsverzögerungen aufzuholen, will er sich nicht festlegen. Genauso wenig wie die Stadt Wien. Trotz Corona-Krise und ihrer Folgen, speziell für Kinder aus sozial schwachen Familien. (Petra Stuiber, 13.11.2020)