Die Wiener Schriftstellerin Lydia Mischkulnig empfindet das Chaos in ihrem Arbeitszimmer als Gegenstück zu ihrer inneren Ordnung. Wenn sie Lust verspürt aufzuräumen, sagt sie, ist das meist kein gutes Omen.

"Mein Arbeitszimmer ist sehr hell und auch sehr einsichtig. Die Einsichtigkeit ist auch eine Aussichtigkeit, und wenn ich abends am Schreibtisch sitze und lese oder recherchiere, dann hat der Blick hinaus auf die Stadt und auf die beleuchteten Fenster, in denen menschliche Silhouetten durchs Zimmer streifen, etwas Schönes und Beruhigendes. Manche Nachbarn sitzen so wie ich zwischen 20 und 24 Uhr am Schreibtisch. Man sieht sich, man nimmt einander wahr, aber man winkt einander nicht zu, als teilte man ein Geheimnis, als fasse man den Tag zusammen – allein, aber nicht einsam.

Lydia Mischkulnig zu Hause in ihrem hellen Arbeitszimmer.
Foto: Lisi Specht

Dieses Zimmer, das Arbeitszimmer, sieht meist so aus wie jetzt. Da liegt ein offener Buchhaltungsordner, dort ist eine Zettelwirtschaft ausgebreitet, und überall, und zwar wirklich überall, stapeln sich die Bücher. Die Bücherstapel sind eine Art Rückhalt, denn immer wieder gibt es während des Schreibens diese Phasen, in denen man verzweifelt, weil man felsenfest davon überzeugt ist, dass man nie wieder einen veröffentlichungswürdigen Satz wird schreiben können. Die Bücher geben Halt und sind Zeugnis vom Werken.

Ganz selten passiert es, dass ich plötzlich der Meinung bin, Tabula rasa machen zu müssen. Dann wird weggeräumt, was ich in die Finger kriege. Vor einigen Jahren habe ich eine Aufräumaktion als Performance inszeniert – und zwar nachdem ich mein Buch "Vom Gebrauch der Wünsche" fertiggeschrieben hatte.

Ihre große Altbauwohnung hat Lydia Mischkulnig in den Nullerjahren bezogen.
Foto: Lisi Specht

Das Publikum hat mir ein paar Stunden dabei zugesehen, wie ich meine gebrauchten Zettel und notierten Wünsche in die Hand genommen, kommentiert und weggelegt habe. Alles, was da lag, sogar ein Tangoschuhstöckel, hatte irgendwie Eingang in den Roman gefunden. Es kam mir vor, als kramte ich in einem Archiv der Anregungen. Am Ende der Aktion war reiner Tisch gemacht.

Ich frage mich, was Ordnung mir bedeutet. Ordnung ist für mich eine Struktur, nach der ich die Welt in den Griff zu kriegen meine. Indem ich meine zerfaserten Gedankensplitter zu einer literarischen Sprache zwirble, habe ich einen roten Faden zwischen den Fingern, der mich durch die labyrinthische Kontingenz des Lebens führt. Wenn das gelingt, dann bin ich zufrieden, dann finde ich mit der inneren Ordnung mein Auslangen, dann stört es mich auch nicht, wenn rundherum Schmutzwäsche und Apfelbutzen herumliegen. Bloß manchmal gelingt mir die innere Ordnung nicht, dann verdoppelt sich das Chaos zu einem Gesamtchaos, und dann entsteht ein riesiger Wunsch nach äußerer Leere. Wohnung aufräumen – das ist bei mir nie ein gutes Zeichen.

"Am ehesten wohne ich hier wie in einem Bühnenbild, und man weiß nicht recht, welches Theater gerade aufgeführt wird", sagt Lydia Mischkulnig.
Foto: Lisi Specht

Mein letztes Werk, Die Richterin, ist fertiggestellt, und erstaunlicherweise gab es bis jetzt nicht das Bedürfnis aufzuräumen. Das überrascht mich ehrlich gesagt. Das nächste Buch befindet sich bereits in einer Art Embryonalphase im Kopf und wartet auf Entfaltung. Ich sinniere durch den Alltag, hänge in der Wohnung rum – und stelle fest, dass ich auch einfach nur einmal wohnen könnte, aber selbst kaum weiß, was Wohnen eigentlich bedeutet, wenn man nicht gerade schreibt.

"Wenn ich mit meinen alten und jungen Lebensmenschen in der Küche sitze, dann wird geschnitten, geschnipselt und gestreuselt", so Lydia Mischkulnig.

Am ehesten wohne ich hier wie in einem Bühnenbild, und man weiß nicht recht, welches Theater gerade aufgeführt wird. Aber ja, ich bin schon die Regisseurin in dieser riesengroßen Wohnung in der Gumpendorfer Straße, in der ich seit den Nullerjahren wohne. Sie entwickelt ihren Charme, wenn das Leben gefeiert wird. Oft ziehen vorübergehend Freunde ein, und wenn ich mit meinen alten und jungen Lebensmenschen in der Küche sitze, dann wird geschnitten, geschnipselt und gestreuselt. Gelegentlich räume ich die Möbel zur Seite, rolle die Teppiche ein und lege Pugliese oder Troilo auf, und dann verwandeln meine Tangofreunde die Schreibwohnung in einen Tanzsaal. Derzeit nicht wirklich. Mir fehlt die Normalität der menschlichen Begegnung. Aber die Zeit wird wiederkommen. Durchhalten!" (16.11.2020)