Sabine Völkl-Kernstock ist klinische Psychologin an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Med-Uni Wien und Vizepräsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (ÖGKiM).

Susanne Greber-Platzer ist Leiterin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der Med-Uni Wien und Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (ÖGKiM).

Kinder brauchen andere Kinder für ihre Entwicklung. Kinderärzte sehen den Lockdown kritisch,

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"Fragt doch die Kinderärzte" war die Forderung vieler in der Diskussion über einen erneuten Schul-Lockdown. Und tatsächlich meldeten sich in den vergangenen Tagen zahlreiche Vertreter der Ärzteschaft zu Wort. Mittlerweile bilden sie eine breite Front im Interesse der nächsten Generation. So auch Sabine Völkl-Kernstock und Susanne Greber-Platzer von der Österreichischen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (ÖGKiM). Deren Ziel ist es, auch den Kleinen eine laute Stimme zu verschaffen. Im STANDARD-Interview sprechen Sie aus psychologischer, aber auch aus kinderärztlicher Sicht über die gesellschaftliche Verantwortung gegenüber Kindern und Jugendlichen, die Auswirkungen von Isolation, Vereinsamung und fehlenden Strukturen sowie deren Recht auf Chancengleichheit.

STANDARD: Welche Folgen befürchten Sie für die nächste Generation?

Sabine Völkl-Kernstock: Generell eine hohe Verunsicherung und eine erhöhte Anzahl an behandlungsrelevanter Angst und Depression und damit einhergehend existenzielle Sorgen um Ausbildung und Arbeitsplatz.

Susanne Greber-Platzer: Zu den kurzzeitigen Folgen zählen sicherlich der Schulstoff, der gerade versäumt wird, aber auch die fehlende oder mangelhafte Vorbereitung für die Abschlussprüfung oder Matura. Das Fehlen von Freunden und der sozialen Kontakte führt zur Isolation, und das ist eine Gefahr für psychische Erkrankungen. Aber auch die alleinige Bewältigung des Alltags bedeutet Überforderung. Das gefährdet langfristig natürlich die stabile Persönlichkeit, die Berufsperspektive und die soziale Kompetenz.

STANDARD: Welche Sorgen und Ängste könnten bei Kindern entstehen?

Völkl-Kernstock: Konkret sind bei jüngeren Kindern vor allem Ängste über die Gesundheit ihrer Eltern und Großeltern vermehrt zu beobachten. Bei Jugendlichen sind Ängste über Schulversagen und insgesamt ihre Zukunft betreffend da. Aber auch die Sorge, den Freundeskreis zu verlieren, nicht mehr so integriert zu sein. Einzelne Jugendliche, aber auch diejenigen, deren Studium oder Ausbildung derzeit nur im Distance-Learning stattfinden, sprechen von Vereinsamung.

STANDARD: Man könnte meinen, mehr Zeit zu Hause zu verbringen sei für Kinder nicht unbedingt nachteilig. Was ist zu Hause so schwierig?

Völkl-Kernstock: Das war am Beginn des ersten Lockdowns spürbar. Es war eine plötzliche Bedrohung von außen, und man flüchtet in sein Nest. Eltern wie Kinder haben das im März nicht durchgehend als nachteilig empfunden. Mit zunehmender Zeit dann jedoch schon, und insbesondere mit dem zweiten Lockdown und den damit verbundenen Maßnahmen wie Distance-Learning und Homeoffice. Es fehlt oft die andere Perspektive sowie der für uns Menschen wichtige Austausch mit anderen Personen. Für Kinder sind Gleichaltrige extrem wichtig. Auch die Möglichkeit, sich zu bewegen, zu basteln, mit anderen zu spielen, ist extrem begrenzt. Wenn die familiären Beziehungen gut sind und eine Belastbarkeit gegeben ist, ist die Situation besser auszuhalten als in Familien, in denen Konflikte oder Sorgen vorherrschen.

Greber-Platzer: Im Kindergartenalter sind Kinder sehr neugierig und aktiv, lernen voneinander und spielen miteinander. Das bedeutet eine Herausforderung für Eltern, denn sie müssen ein Tagesprogramm für ein oder sogar zwei Kinder erstellen. Gleichzeitig müssen sie die Rolle von gleichaltrigen Freunden übernehmen, einen abwechslungsreichen Alltag in den täglich gleichen Räumen gestalten. Die Gefahr ist, dass Kinder zu viel Zeit alleine verbringen, wenig gefördert werden, zu wenig Herausforderungen geboten bekommen und sich aus Langeweile zurückziehen oder nervig und anstrengend werden. Die Schwierigkeit liegt darin, eine Balance zwischen Alltag und Kinderbetreuung zu finden. Jugendliche wiederum fangen an, sich hauptsächlich nur mehr mit sozialen Plattformen, Computerspielen oder Fernsehen zu beschäftigen, weil alles darüber hinaus ja ohnehin gestrichen ist und Freizeitaktivitäten gestoppt und Treffen verboten sind.

STANDARD: Im Zuge des Lockdowns haben auch Aggression und Übergriffe in Haushalten zugenommen. Bisher war in den Medien verstärkt von Frauen die Rede, aber wie ist es bei Kindern?

Völkl-Kernstock: Konkrete Zahlen kann ich nicht nennen. Aber Beobachtungen zeigen, dass gewalttätiges Verhalten mit Worten oder Taten gegenüber Kindern und Jugendlichen oftmals aus der Überforderung mit der derzeitigen Situation resultiert. Das entschuldigt natürlich nicht die Handlung selbst, zeigt aber, dass Unterstützung dringend benötigt wird. Wenn allerdings die Kinder immer nur zu Hause sind, kein Korrektiv durch Schule oder Hort haben, fehlen ihnen oftmals Vertrauenspersonen, mit denen sie reden und denen sie sich anvertrauen können, und man bekommt erst sehr spät davon Kenntnis.

Greber-Platzer: Kleinkinder und Kinder mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen sind besonders gefährdet, Opfer von häuslicher Gewalt zu sein – ob psychische Misshandlung, sexueller Missbrauch oder Vernachlässigung. Als Kind kommt man nicht aus, das heißt, man kann sein Zuhause nicht verlassen. Die Eltern, Obsorgeberechtigten oder erwachsenen Familienangehörigen haben ja auch manchmal den Job verloren, haben keinen Freiraum, sind Ersatz für Lehrer, den Sportverein und vieles mehr – das führt, wie gesagt, zu einer Überforderung, Gereiztheit, Aggressivität und dann auch zu Gewalt, Einschüchterung, Verboten, Spannung, aber auch Missbrauch.

STANDARD: Sind depressive Verstimmungen bei Kindern und Jugendlichen verstärkt zu beobachten?

Völkl-Kernstock: Ja, dem ist derzeit leider so. Wobei diese depressive Verstimmtheit sowie auch die erhöhte Unsicherheit und Angst bei Kindern und Jugendlichen oftmals andere Formen annehmen, etwa in Form eines gereizten, wutbehafteten, aggressiven Verhaltens gegenüber anderen Personen sowie auch gegen sich selbst. Oft ist so ein Verhalten ein Versuch, seine Angst zu kontrollieren. Aber auch infolge von Niedergeschlagenheit, Unlust, Unmotiviertheit sowie Konzentrationsproblemen.

STANDARD: Was kann man als Elternteil da tun?

Völkl-Kernstock: Wahrnehmen, was bedeutet, als Elternteil hinzusehen, hinzuhören, anzusprechen, und sich gegebenenfalls professionelle Hilfe suchen. Sowohl der Covid-19-Lockdown als auch das Attentat in Wien stellen massive Verunsicherungen für Kinder und Jugendliche dar, deren Welt erstmals aus den Fugen geraten ist. Wie alle Menschen benötigen Kinder und Jugendliche Perspektiven, Dinge, über die man sich in naher Zukunft freuen kann, die einem einen positiven Blick geben.

STANDARD: Warum ist Distance-Learning oder Homeschooling auf Dauer für Kinder nicht gut?

Völkl-Kernstock: Entsprechend den Berichten von Jugendlichen verläuft das Distance-Learning sehr unterschiedlich. Jugendliche haben derzeit oftmals nur eine Stunde am Tag, manchmal aber auch vier bis sechs Stunden. Es fehlt der Austausch, da weniger Interaktion in diesem Lernformat möglich ist, und es besteht Sorge, Schularbeiten und Tests nicht gut erledigen zu können, da sie sich oft nicht als gut vorbereitet erleben. Natürlich fehlt aber auch der Schulweg, der Alltagsrhythmus, denn der Weg zur Schule bedeutet derzeit oft lediglich einen Schritt vom Bett zum Schreibtisch, oder es wird der Laptop ins Bett geholt. Die damit einhergehende reduzierte Lerneffizienz ist für die Jugendlichen selbst sehr spürbar und bewusst. Es fehlt aber das Korrektiv, das sie noch benötigen.

STANDARD: Wie wichtig ist für Kinder ein strukturierter Tagesablauf, den Schulen bieten können?

Völkl-Kernstock: Sehr wichtig! Nicht nur wegen des Lernens, sondern auch die sozialen Kontakte betreffend.

STANDARD: Was passiert bei einem so langanhaltenden Mangel an sozialen Kontakten? Kann das auch bei Kindern zu Vereinsamung führen?

Greber-Platzer: Für eine gesunde Entwicklung braucht es die Interaktion und den Austausch mit gleichaltrigen Kollegen. Erziehungspersonen sind nicht nur die Eltern, sondern auch Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen. Chaos führt zur Orientierungslosigkeit, und klare Abläufe geben Vertrauen. Kinder lernen miteinander, brauchen den Kontakt zur Lehrperson. Jugendliche geben sich oft erwachsen, sind aber nicht erwachsen. Jugendliche wollen und sollen nicht allein gelassen werden und sich den ganzen Tag alleine organisieren, denn das überfordert sie. Sie brauchen den Zusammenhalt in der Gruppe, denn sie lernen in der Diskussion. Gerade bei Jugendlichen sind Lehrer nicht nur Lehrende, sondern Wissende, die es schaffen, sie für Themen zu begeistern und sie mitnehmen. Die Lehrer sind auch diejenigen, die merken, wenn Probleme oder Schwächen im Schulstoff vorhanden sind. Online geht das unter.

Völkl-Kernstock: Kinder, die sich generell nicht so leicht mit Kontakten tun, die eher ruhiger sind und zu jenen gehören, auf die oftmals die Gleichaltrigen zukommen, die leiden sehr und fühlen sich einsam.

STANDARD: Wie stehen Sie zu der Diskussion über die Rolle der Kinder in der Covid-19-Infektionskette?

Greber-Platzer: Die Antwort darauf ist deshalb schwierig und widersprüchlich, weil Kinder, je jünger sie sind, umso weniger an Covid-19 erkranken. Kinder werden durch direkte Kontakte mit Covid-positiven Personen getestet und dann als positiv oder negativ erkannt. Ein positiver Test besagt, dass man mit dem Virus infiziert ist, aber das heißt nicht, dass man krank sein muss oder dieses auch verbreiten muss. Die Ergebnisse belegen, dass Kinder sehr wohl positiv sind, aber das Virus nicht extrem verbreiten, also andere nicht anstecken. Vor allem unter Zehnjährige zeigen in den meisten Fällen keine Symptome, Testungen erfolgen aber immer nur bei einem Kontakt zu einer Covid-19-positiven Person.

STANDARD: Wo ist der Unterschied zu Erwachsenen?

Greber-Platzer: Erwachsene sind eher krank, vor allem auch schwer krank, und deshalb erfolgen hier auch Tests ohne nachweislichen Kontakt zu einer positiv getesteten Person. Da aber die Ausbreitung in Kindergärten und Schulen offensichtlich nicht von den Kindern ausgeht beziehungsweise nur vereinzelt, dürfte klar sein, dass Kindergärten und Volksschulen recht sicher sind. Aber auch die älteren Kinder und die Jugendlichen können in die Schulen gehen, da man mit den Schutzmaßnahmen die Gefahr, sich anzustecken, deutlich reduzieren kann, soweit sich eine klare Strategie und klare Vorgaben zum Ablauf in den Schulen etabliert haben. Natürlich wäre es ideal, wenn man dann auch noch regelmäßig testen würde.

STANDARD: Werden die Maßnahmen – MNS, Abstand halten, Hygiene – innerhalb der Schulen und Betreuungseinrichtungen derzeit überhaupt wirklich umgesetzt? Oder sind sie ausbaufähig?

Völkl-Kernstock: Wahrscheinlich kann man es immer besser machen. Aber die Kinder und Jugendlichen sowie deren Eltern, denen ich in meiner täglichen Arbeit begegne, sind sehr korrekt die Maßnahmen betreffend. Oftmals strecken einem gerade jüngere Kinder noch die Hand zur Begrüßung entgegen und ziehen diese sogleich wieder weg – im Sinne der derzeitigen neuen Höflichkeit.

Greber-Platzer: Die Schutzmaßnahmen müssen einfach konsequent umgesetzt werden. Das bedeutet auch keine Unterbrechungen in den Klassen, am Gang, in den Nassräumen. Eingangsbereiche zu den Kindergärten und Schulen sollten rein dem Hinbringen und Abholen vorbehalten sein, empfehlenswert ist, dass nur eine Person diese Aufgabe übernimmt. Aber auch das Kindergarten- und Lehrpersonal sollte sich streng an die Schutzmaßnahmen halten und sollte unbedingt engmaschig getestet werden.

STANDARD: Wird von Eltern und Lehrern der Ernst der Lage ausreichend kindgerecht vermittelt, damit Kinder die notwendigen Maßnahmen auch verstehen und mittragen können? Hie und da gewinnt man den Eindruck, einige hätten den Ernst der Lage nicht verstanden.

Völkl-Kernstock: Der Großteil der Kinder und Jugendlichen ist sehr gut informiert, aber gelegentlich an schützende Maßnahmen zu erinnern schadet nicht. Allerdings ist es den meisten Jugendlichen auch bewusst, dass sie nicht zur Risikogruppe gehören, und der Wunsch, die Freunde zu sehen und mit ihnen Zeit zu verbringen, ist verständlicherweise sehr groß. Ich muss allerdings anmerken, dass sich meiner Beobachtung nach in jeder Altersgruppe Personen finden, also auch bei Erwachsenen oder der älteren Generation, die sich weniger gut an die derzeitigen Regeln halten. (Julia Palmai, 13.11.2020)