Damals im August gurgelte der siebenjährige Schüler Augi (angeleitet von der biomedizinischen Analytikerin Martina Fondi von der FH Campus Wien) öffentlich in der Aula der Wissenschaften, wo Bildungsminister Heinz Faßmann die Gurgeltest-Studie vorstellte. Nun liegen erste Ergebnisse vor.

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Der Mikrobiologe Michael Wagner von der Uni Wien ist wissenschaftlicher Leiter der Gurgelstudie an den österreichischen Schulen.

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Wien – Kinder sind eine besondere und eine besonders umkämpfte Gruppe in der Corona-Pandemie, nicht zuletzt weil daran die wichtige Schulfrage hängt, an die wiederum viele andere Gesellschaftsaspekte gekoppelt sind. In der extrem polarisierten Debatte ist viel Halbwissen unterwegs, oft blankes Unwissen und explizites Falschwissen – aber auch, und das zeichnet gute Wissenschaft aus und gehört zu ihrem Selbstverständnis: Noch-nicht-Wissen. Das Wissen darum, dass man vieles eben noch nicht weiß, trotz rasend schneller und großer Wissenssprünge, die während der bedrängenden Pandemie gemacht werden. Diesen Spagat auszuhalten ist für die öffentlich-politische Debatte offenkundig deutlich schwieriger als für die wissenschaftliche Community, die um diese Tatsache weiß.

Nun aber gibt es einen neuen Wissenszuwachs: Die Ergebnisse der sogenannten Gurgelstudie liegen vor, genau genommen eine "Erstuntersuchung der Schul-Sars-CoV-2-Monitoringstudie", die die Rolle und Bedeutung von Kindern in der Corona-Pandemie erhellen soll.

Erstellt wurde sie von einem Konsortium der Universität Wien, der Med-Unis Graz und Innsbruck sowie der Medizinischen Fakultät der Uni Linz in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium. Wissenschaftlicher Koordinator ist Professor Michael Wagner, der das Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft an der Uni Wien leitet.

Kohortenstudie mit zehn Testungen in zehn Monaten

Ziel der Kohortenstudie, von der jetzt einmal Runde eins von insgesamt zehn geplanten Erhebungsrunden vorliegt, ist es, die Häufigkeit aktiver Covid-19-Infektionen bei Schülerinnen und Schülern in der Primarstufe (Volksschule) und der Sekundarstufe 1 (Mittelschule, AHS-Unterstufe) und deren Lehrkräften in Österreich über einen Zeitraum von zehn Monaten zu bestimmen.

Dafür wurden an 243 repräsentativ ausgewählten Schulen in ganz Österreich rund 10.400 Schülerinnen und Schüler sowie deren Lehrerinnen und Lehrer nach Zufallsprinzip ausgewählt. Sie werden im Lauf des Schuljahrs 2020/21 alle drei bis fünf Wochen an zehn verschiedenen Zeitpunkten zum "Gurgeltest" gebeten, das sind Mund-Rachen-Spülungen mit einminütigem Gurgeln. Diese Proben werden dann mittels RT-qPCR (real-time quantitative PCR), das heißt mit quantitativen Echtzeit-PCR-Tests, auf Vorliegen einer Sars-CoV-2-Infektion geprüft. Die nun vorgelegten Daten beziehen sich auf den Zeitraum zwischen 28. September und 22. Oktober, erfasst wurden 10.464 Kinder und Erwachsene (davon etwa 1.200 Lehrpersonen), 49,7 Prozent aus Volksschulen, 50,3 Prozent aus Mittelschulen oder AHS-Unterstufen. 308 (2,9 Prozent) der Proben waren nicht verwertbar.

40 von 10.156 Proben waren positiv

Was ist herausgekommen? Exakt 40 der verbleibenden 10.156 Proben waren positiv. Das entspricht einer Gesamtprävalenz, also einer Häufigkeit, von 0,39 Prozent. Oder, in anderen Worten: Knapp 0,4 Prozent aller Schulangehörigen in den österreichischen Volks- bzw. Mittelschulen und AHS-Unterstufen waren im ersten Erhebungszeitraum mit dem Coronavirus infiziert. Das heißt auch: Unter 250 Schülern und Lehrern befand sich im Untersuchungszeitraum eine infizierte Person, die nichts von ihrer Infektion wusste. Die Schwankungsbreite liegt in einem Intervall zwischen 0,28 und 0,55 Prozent.

Als Nächstes interessierte die Forschergruppe, ob es Unterschiede bei der Infektionshäufigkeit zwischen den Schulformen oder zwischen Schulkindern und Lehrkräften gibt. Die Antwort ist: nein. Für beide Kategorien konnte kein statistisch signifikanter Unterschied beobachtet werden. Die Prävalenz in Volksschulen beträgt 0,38 Prozent, in Mittelschulen/AHS-Unterstufen 0,41. Lehrkräfte steckten sich zwar etwas häufiger an (0,57 Prozent) als Schüler (0,37 Prozent), aber auch dieser Unterschied war nicht signifikant.

Signifikant höhere Ansteckungshäufigkeit in sozial benachteiligten Schulen

Sehr wohl gibt es diesen signifikanten Unterschied in der Ansteckungshäufigkeit jedoch für ein anderes Kriterium, nämlich zwischen Schulen mit hoher oder sehr hoher sozialer Benachteiligung (0,81 Prozent Prävalenz) und solchen mit geringer oder moderater sozialer Benachteiligung (0,23 Prozent). Die Schulen wurden nach einem Index der sozialen Benachteiligung (ISB) unterschieden. Dieser ISB erfasst die soziale und ethnische Zusammensetzung der österreichischen Schulen und bei der Ermittlung werden Kategorien wie der höchste Bildungsabschluss der Eltern bzw. deren berufliche Position ebenso einbezogen wie ein allfälliger Migrationshintergrund und die Alltagssprache in der Familie (Deutsch, nicht Deutsch).

Die Studienergebnisse bedeuten, dass in benachteiligten Schulen die Wahrscheinlichkeit, eine asymptomatisch infizierte Person zu finden, um über 3,5-mal wahrscheinlicher war. Dieser Unterschied blieb auch nach Adjustierung für die durchschnittliche Klassengröße, Bevölkerungsdichte im Einzugsgebiet und Bundesland.

Was bedeuten nun diese Zahlen? Was lässt sich mit ihnen anfangen? Wie sind sie einzuordnen vor dem Hintergrund der aktuell extrem angespannten Corona-Situation? Studienkoordinator Michael Wagner sagt im STANDARD-Gespräch im Wissen, dass die erste Teilstudie "in einer superemotionalen Phase" herauskommt: "Das sind die ersten umfangreichen Daten zur Dunkelziffer an österreichischen Schulen, die auch eine Aussage über die Altersverteilung der Infektionen zulassen. Uns geht es darum, das ganze Schulthema faktenbasiert zu diskutieren. Gerade weil im Sommer so viele vermeintliche Experten so weit weg waren von Fakten. Wir würden jetzt nicht über Schulschließungen diskutieren, wenn nicht im Sommer so sinnlos die Pandemie verharmlost worden wäre und Wunschdenken viele Wortmeldungen beeinflusst hätte."

Zeitraumbezogene Dunkelzifferstudie

Also ein paar Lesehinweise des Forschers: Die Gurgelstudie ist eine Dunkelzifferstudie, bei der man nicht den Zeitraum der Untersuchung außer Acht lassen darf: "Man kann die Zahlen natürlich nicht mit jetzt vergleichen. Anfang Oktober hatten wir eine ganz andere Situation mit viel weniger Infizierten als jetzt." In diesem Studiendesign wurden Menschen in Schulen getestet, die keine Symptome hatten "und die nie und nimmer zum Testen gegangen wären", erklärt Wagner. Darum könne man den Prävalenzwert auch nicht vergleichen mit den Tests, die etwa über die Gesundheitshotline 1450 abgewickelt werden, weil sich dort ja vor allem Menschen hinwenden, die schon irgendwelche Symptome haben oder in Kontakt mit Sars-CoV-2 infizierten Personen waren – damit ist deren Positivitätsrate automatisch viel höher.

Welche Schlussfolgerungen zieht der Mikrobiologe aus der ersten Studientranche? "Wir müssen den Zahlen ins Gesicht schauen. Die internationale Studienlage und unsere Daten erlauben es ganz sicher nicht zu sagen, Kinder spielen eine untergeordnete Rolle in der Pandemie. Bitte hören wir auf mit der Diskussion, Kinder unter zehn würden keine Rolle spielen. In Schulen findet ein relevantes Infektionsgeschehen statt, und dieses wird auch aus den Schulen in die Familien getragen. Dies hat auch eben der Präsident des deutschen Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, für Deutschland bestätigt. Das Narrativ, dass Kinder unter zehn Jahren wesentlich seltener infiziert seien, stimmt zumindest für Österreich ganz offensichtlich nicht, und es besteht auch keine Veranlassung, Kinder dieser Altersstufe beim Testen oder den Quarantäneregelungen anders zu behandeln als Erwachsene. Unsere Daten zeigen interessanterweise auch keinen signifikanten Unterschied bezüglich des Anteils infizierter Personen zwischen Lehrern und Schülern."

Wagners Forderung lautet denn auch: "Symptomatische Kinder, die ja viele Kontakte in der Schule haben, muss man unabhängig von ihrem Alter genauso testen wir andere Altersgruppen." Die verfügbaren RT-Lamp-Schnelltests seien hierfür besonders gut geeignet.

Index der sozialen Benachteiligung

Welche Erklärung hat der Wissenschafter für die Tatsache, dass man in Schulen mit vielen sozial benachteiligten Kindern viel mehr Covid-Infizierte findet? "Man sieht an der Stichprobe: Es gibt einen Index der sozialen Benachteiligung. Da gibt es eine ganz starke Korrelation." Wagner spricht von mehreren möglichen Ursachen: "Es könnte sein, dass man mit den Verhaltensempfehlungen nicht zu ihnen durchdringt, sei es wegen Sprachbarrieren oder Desinteresse. Vorstellbar ist auch, dass diese Betroffenengruppe in belastenden, engen Wohnverhältnissen lebt und es dadurch in den Familien zu häufigeren Clusterbildungen kommt. Vielleicht schicken sie ihre Kinder auch aus Not mit Symptomen in die Schule. Das wird zu untersuchen sein. Es zeigt sich jedenfalls: Wir haben in solchen Brennpunktschulen ein Problem. Aber ist es wichtig, keine Schuldigen zu suchen, sondern man sollte die Befunde unserer Studie nutzen, um jetzt gezielt an diesen Schulen nachzuarbeiten und aufzuklären", sagt Wagner. Er hätte dazu auch Ideen: "Vielleicht sollte man mehr über Influencer versuchen, diese jungen Gruppen in der Pandemie zu erreichen. Da ist in Österreich leider wenig passiert."

Eine gesellschaftliche Solidaritätsfrage – mit Älteren und Kindern

Ganz grundsätzlich meint Wagner zur aktuellen Schulschließungsdebatte: "Ich war immer für eine Mund-Nasen-Schutz-Pflicht für Kinder und Lehrer ab der Volksschule. Und zwar, das ist wichtig, vor allem auch nach dem Lockdown. Die Masken sind kein perfekter Schutz, aber sie haben einen Effekt." Gestaffelte Schulbeginnzeiten und keine vollgestopften Schulbusse oder Öffis nennt Wagner ebenso wie geteilte Klassen, Luftreinigungsfilter, in die man rechtzeitig hätte investieren sollen, und die dringende Notwendigkeit, in den Horten eine Durchmischung der Klassen zu verhindern: "Keine Maßnahme ist für sich allein ein Wundermittel. Wir müssen die Schulen durch diese Maßnahmen von innen schützen und von außen. Denn sie sind kein abgeschlossenes System. Das heißt: Man kann die Schulen nur offen halten, wenn man als Gesellschaft die Infektionszahlen niedrig hält. Die Schulen alleine können sich nicht ausreichend schützen. Das ist eine gesellschaftliche Solidaritätsfrage – mit den Älteren und den Kindern. Das erfordert einen Schulterschluss von uns allen", warnt der Forscher. "Denn wenn wir dieses Virus jetzt nach dem Lockdown nicht endlich ernst nehmen, haben wir Ende Jänner den nächsten Lockdown." (Lisa Nimmervoll, 13.11.2020)