An der Grenze von Ecuador und Peru, nur wenige Kilometer vom Nationalpark Cordillera del Condor entfernt, schlängelt sich in plätschernder Gelassenheit der Rio Santiago durch die Landschaft. Kleine Fischerboote schippern übers Wasser, die Bäume reichen bis an die Uferkante vor, am Horizont ein paar karstige Grüße aus dem Nachbarland – als sich plötzlich, nach einer der vielen, vielen Flusskurven im dichten südamerikanischen Dschungel eine 360 Meter lange, gepixelte Architekturmaschine übers Wasser spannt. Panik im Paradies!

"Ganz im Gegenteil", sagt Peter Jay Zweig, Professor an der University of Houston, Texas, College of Architecture and Design, "das ist kein Grund zur Sorge, sondern unser Entwurf für eine prototypische Flüchtlingsstadt in Lateinamerika. Die Stadt liegt strategisch günstig zwischen zwei Ländern, ist an einem wichtigen Handelsweg situiert und bietet rund 50.000 geflüchteten Menschen ein modernes, nachhaltiges und vor allem auch autarkes Dach über dem Kopf – mit Wohnboxen, Ställen für Nutztiere und Systemen für Fischzucht und Landwirtschaft."

Utopie oder Dystopie? Das 35-köpfige Forscherteam hat vier Flüchtlingsstädte entworfen: die "Bridge City" in Südamerika...
Visualisierung: Zweig + Borden

Keine Chance auf Integration

Was sich auf den ersten Blick und selbst nach den ersten getätigten Aussagen des 72-jährigen Professors zynisch anhört, ist nicht nur absolut ernst gemeint, sondern auch Resultat eines dreijährigen, geförderten Forschungsprojekts der University of Houston, das Zweig gemeinsam mit seinem Kollegen Gail Peter Borden durchführte und an dem sich insgesamt 45 Studierende beteiligten. Aktuell ist die City of Refugees, die vier Stadtprototypen in Südamerika, Afrika, Asien und Europa umfasst, in der Galerie Aedes in Berlin zu sehen.

"So eine autarke abgeschiedene Stadt irgendwo im Nirgendwo klingt nicht besonders einladend, das gebe ich zu, sondern bedient in unseren Köpfen eher dystopische Bilder von Flüchtlingspolitik", sagt Borden. "Doch Tatsache ist: Die Massenmigration auf der Welt ist gewaltig und betrifft zurzeit mehr als 70 Millionen Menschen. Viele davon befinden sich in einer äußerst prekären Lebenssituation und suchen um Asyl an oder sind sogar staatenlos." In den meisten Ländern, so Borden, gebe es in der aktuellen Flüchtlingspolitik keine Chance auf Integration in die heimische Bevölkerung, denn die Flüchtlinge und Asylwerber würden meist in Camps und künstliche Stadtagglomerationen abgeschoben.

...die "Switchback City" in Europa...
Visualisierung: Zweig + Borden

Das größte Flüchtlingslager der Welt ist Kutupalong in Bangladesch, an der Grenze zu Myanmar, und bietet Platz für fast eine Million Menschen. Weitere XXL-Lager mit 70.000 bis 200.000 Einwohnern liegen in Jordanien, im Sudan und vor allem Ostafrika – in Uganda, Kenia und Tansania. Borden: "Die Zahlen sind erschreckend, keine Frage, doch es liegt nicht an uns Architekten, diese Asylpolitik zu befürworten oder zu verurteilen. Daher haben wir uns dazu entschieden, uns an den offiziellen Planungsrichtlinien der UNHCR zu orientieren und im Rahmen der aktuellen Gegebenheiten eine bestmögliche Stadtvision zu entwerfen."

Bei der "Bridge City" in Ecuador handelt es sich um eine dreidimensionale Matrix aus Stahl und Stahlbeton, in die die Menschen im Selbstbau kleine Wohn- und Wirtschaftshäuser aus Bambus, Holz und Lehm hineinsetzen können. Die Platzierung ist so berechnet, dass jeder Einwohner pro Tag zumindest zwei Stunden Sonnenlicht bekommt. An den Außenseiten wird die Megabrücke, die an die visionären Entwürfe von Archigram und der Metabolismus-Architekten der Sechzigerjahre erinnert, großflächig begrünt. Als Erschließung dienen Wege und Brücken in unterschiedlichen Etagen.

Eine Stadt aus Schiffen

...und die "Gradiant City" in Afrika. Die Prototypen sollen Auskunft über die Idealstadt der Zukunft geben.
Visualisierung: Zweig + Borden

In Afrika ist die "Gradiant City" geplant, eine lineare Stadtvision für 100.000 Einwohner an der Grenze zwischen dem Kongo und Uganda, die dank unterschiedlichen Höhenlagen verschiedene Klimata und somit unterschiedliche Möglichkeiten der Landwirtschaft bietet. In Europa ist die "Switchback City" angesiedelt. Die dorfähnliche Struktur an der serbisch-rumänischen Grenze ist ein Beispiel für verdichteten Flachbau und orientiert sich an mediterranen Hügelstädten mit Gassen und Gärten.

Und in Chittagong, Bangladesch, wo sich heute der größte Schiffsfriedhof der Welt befindet, haben die Studierenden eine "Upcycle City" für 500.000 Menschen konzipiert. Die Idee dabei: Während die toten Schiffe und ausrangierten Überseecontainer im Hafen auseinandergenommen werden, kann mit dem gewonnenen Material nebenan gleich eine neue Stadt für geflüchtete Rohingya errichtet werden.

"Die vier Städte, die wir entwickelt haben, sind mehr als nur ein Forschungsprojekt", sagt Peter Jay Zweig, "denn wir orientieren uns am Leap-Frogging des Global South, also am Überspringen von Entwicklungsstufen, und schaffen in großen Schritten aus einem wirklich unangenehmen gesellschaftlichen Zustand eine positive Stadtutopie, die sich durch Recycling, Autarkie und energetische, verkehrstechnische und landwirtschaftliche Nachhaltigkeit auszeichnet. Ja, das sind künstliche Megastrukturen für Migranten und Migrantinnen. Aber wenn man einen Blick hinter die offensichtliche Schablone der in sich ab geschlossenen Polis blickt, dann erkennt man viele Potenziale, von denen unsere Städte der Zukunft massiv profitieren könnten." (Wojciech Czaja, 15.11.2020)