Eine verbindliche wissenschaftliche Definition fehlt, aber wir wissen, was gemeint ist: Wenn Vertreter einer Religion darauf hinarbeiten, ihre religiösen Werte und Regeln für alle gültig zu machen; wenn sie ihre Mitglieder dazu anstacheln, Druck auf andere Mitglieder auszuüben, diese Regeln einzuhalten; wenn sie versuchen, ihre eigene religiöse Identität der ganzen Gesellschaft und dem Staat überzustülpen; wenn sie, wären sie stark genug, das politische System dahingehend verändern würden; wenn sie ihre religiösen Regeln politisch absichern wollen, um Verstöße rechtlich ahnden zu können. Ja, dann haben wir es wohl mit einer "politischen Religion" zu tun.

Salafisten verteilen in Wien den Koran, um den Islam zu verbreiten. Die österreichische Regierung hat vor allem jene Vertreter des politischen Islam im Visier, die ihrer Meinung nach im Verborgenen agieren.
Foto: Christian Fischer

Allerdings wird in Österreich heute die Beschreibung "politisch" nur vor den Namen einer Religion gesetzt, des Islam. Vom großen Ringen zwischen Islamisten, die in Österreich die Scharia einführen wollen, und der postchristlichen Mehrheitsgesellschaft ist zwar nichts zu merken. Aber die Kräfte arbeiten im Verborgenen, meint unsere Regierung – und für den Geschmack der Mehrheitsgesellschaft ist ohnehin längst zu viel sichtbarer Islam in den öffentlichen Raum eingedrungen, in dem ihr eigenes christliches Erbe nur mehr folkloristische und dekorative Aufgaben erfüllt.

Gesinnungspolizei?

Darum soll in Österreich ein "Straftatbestand politischer Islam" eingeführt werden, der laut Integrationsministerin Susanne Raab die gesamte "Ideologie" mit einschließt. Gemeint wird wohl deren Verbreitung sein, die Tat, die Betätigung: Gesinnungspolizei haben wir noch keine. Und natürlich wird sich die Frage stellen, wie sich ein solches Verbot mit den Grundrechten, der Religionsfreiheit, den Gleichheitsgrundsätzen ausgeht: Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass die Regierung nun zwar, weil es eben sehr populär ist, mit einem "Verbot des politischen Islam" hausieren geht – aber am Ende ein Verbot aller staatsfeindlichen politischen Extremismen, religiös unterfüttert oder nicht, herauskommt.

Jeder weiß trotzdem, was gemeint ist. Oder glaubt zumindest, es zu wissen: Denn haben die alteingesessenen Österreicher und Österreicherinnen den politischen Katholizismus quasi noch in ihrer DNA, so ist das Raumschiff politischer Islam erst kürzlich aus weit entfernten Galaxien gelandet.

Viele hierzulande bringen das "Problem" direkt mit 2015 und den Flüchtlingsbewegungen in Verbindung – und übersehen, dass der IS-Attentäter von Wien in Österreich geboren wurde und die massiven Anti-Muslimbrüder-Razzien am Montag wohl nur wenige "Ausländer" im technischen Sinn betrafen.

Im Verborgenen

Die Experten der neu geschaffenen Dokumentationsstelle Politischer Islam betonen die Verstellungskünste der Islamisten, die unsere Gesellschaft unterwandern: Den Salafisten, der auf der Straße Korane verteilt, erkennen wir als Propagandisten – den netten muslimischen Nachbarn nicht, der heimlich das Gesicht verzieht, wenn aus unserem Küchenfenster die Schweinsbratendüfte steigen. Außer er spricht etwas zu viel vom europäischen Kolonialismus und weißem Rassismus: Dann wissen wir, wes Geistes Kind er ist.

Ernsthaft? Man muss kein Krypto-Muslimbruder sein, um über den westlichen Beitrag zur unglücklichen Geschichte von Teilen der islamisch geprägten Welt nachzudenken. Dazu gehört auch eine redliche Analyse des Aufstiegs der Bewegungen, von denen wir uns jetzt bedroht fühlen. Ja, alles ist im Islam "angelegt". Aber wir dürfen nicht vergessen, was so alles im Christentum "angelegt" war, was Menschen im Laufe der Geschichte erdulden mussten. Die modernen islamistischen Bewegungen sind nicht vom Himmel gefallen. Ihre Anfänge sind tatsächlich oft mit dem Kampf gegen Kolonialismus verbunden.

Beinharte Machtpolitik

Es gibt jedoch auch ganz aktuelle, beinharte machtpolitische Aspekte. Auf unserem Radar ist die Muslimbrüder-Gefahr erst spät erschienen: Ihre Identifizierung mit dem politischen Islam, dem unsere Regierung folgt, wird heute stark von nahöstlichen Staaten betrieben, die oft selbst eine salafistische monarchistische Tradition haben.

Sie stehen in Konfrontation mit dem islamistischen Republikanismus der Türkei unter Tayyip Erdoğan – der aus dem Muslimbruder-Dunstkreis stammt und 2011 den Sturz arabischer Regime im Rahmen des Arabischen Frühlings begeistert begrüßte. Ihr Kampf gegen den politischen Islam der Muslimbrüder hat jedoch rein gar nichts mit der Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten oder gar "westlichen Werten" zu tun – sondern nur mit dem Schutz ihrer eigenen Systeme.

Das soll nicht heißen, dass es in diesen Staaten nicht dennoch teilweise die Einsicht gibt, dass die salafistische Engführung des Islam, die jahrelang als eigene und deshalb nicht verhandelbare Kultur angesehen wurde, eine Sackgasse ist, aus der man nun herauswill. Die Religion soll privater und nicht mehr erstes Anliegen des Staates werden. Aber die Scharia-Gerichte, die hierzulande als das sichtbarste Element des politischen Islam gelten, werden bei unseren arabischen Partnern im Kampf gegen die Muslimbrüder – an vorderster Front die Vereinigten Arabischen Emirate – mit Sicherheit nicht abgeschafft werden.

Waffe im Kalten Krieg

Es geht auch um Imagekorrektur. Vor allem Saudi-Arabien wurde nach 9/11 der "Export des Wahhabismus" – also seiner lokalen salafistischen staatstragenden, ergo politischen Ideologie – vorgeworfen. Die Saudis haben ihren Islam verbreitet. Zusatz: Dieses politisch-islamische Gegenmodell wurde, um dem Einfluss der Sowjetunion in Nahost während des Kalten Kriegs etwas für die Menschen Attraktives entgegenzusetzen, im Westen kritiklos bis erfreut zur Kenntnis genommen. Islam gegen den Helden des arabischen Sozialismus, den ägyptischen Staatschef Gamal Abdel Nasser; Islam auch gegen die damals noch weitgehend religionsfreien palästinensischen Bewegungen. Die Geister, die ich rief ...

Warum das alles wichtig ist? Weil es zeigt, dass "wir" und "sie" vielleicht doch nicht so einfach zu trennen sind. Wenn es politisch passt, bedienen "wir" uns gerne "ihres" religiösen Instrumentariums. Wie "Abu Jihad" Max von Oppenheim, der deutsche Diplomat, der im Ersten Weltkrieg im offiziellen Auftrag im Nahen Osten für einen Jihad gegen Briten und Franzosen mobilisierte. Typischer politisch-militärischer Islam, made in Europe. (Gudrun Harrer, 14.11.2020)