Es ist müßig, die Regierung in der Corona-Krise an ihren Taten zu messen, geschweige denn an ihren Worten. "Es gibt schön langsam Licht am Ende des Tunnels", sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz noch im August. Heute, drei Monate später, könnte man über diese Aussage spotten, wenn die Lage nicht gerade so dramatisch ernst wäre. Die wochenlang zögerliche Vorgehensweise der Regierung hat zu der die Systeme bedrohenden Situation geführt, wie wir sie jetzt haben. Dass intern offenbar Uneinigkeit über Tempo und Ausmaß der verhängten Maßnahmen herrscht, verheißt für die Zukunft jedenfalls nichts Gutes.

Aber das allein ist es nicht. Die schmerzlichen Auswirkungen der Corona-Krise, wie wir sie jetzt zum zweiten Mal erleben, reichen tiefer. Sie sind Ausdruck einer Krise der Solidarität.

Zusammenhalten, füreinander eintreten und daraus etwas schaffen: Davon haben westliche, konsumorientierte Gesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten bewusst wenig gehalten. Solche Ideen haben das Gemeinwohl der Menschen im Bild und nicht den Kurs der Ich-Aktie. Lange Zeit hat man den Menschen eingeredet, es gehe im individuellen Dasein um die Selbstverwirklichung, um den Selbstwert, darum, nur ja zuerst auf sich zu schauen – und erst dann auf andere: "Weil ich es mir wert bin", lautete ein beliebter und treffender Werbeslogan. Dass es etwas bringt, sich mit anderen zu verbinden, solidarisch zu sein und auf etwas zu verzichten, weil es dem Gesamten nützt, haben viele verlernt. Und das fällt uns jetzt auf den Kopf.

Abstand halten, Mund-Nasen-Schutz tragen, Hände waschen, soziale Kontakte reduzieren: Dass viele sich an diese Maßnahmen nicht halten können zeugt von einer Krise der Solidarität.
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Unsichtbare Gefahr

Das Virus hat, so absurd das klingen mag, einen gewissen Teil seines Schreckens verloren. Im Frühjahr hatte Covid-19 noch den Nimbus der unsichtbaren Gefahr, der Seuche, die jeden treffen und töten konnte. Inzwischen weiß man mehr über Krankheitsverläufe – und dadurch fühlen sich jene, die meinen, nicht zu den Risikogruppen zu gehören, aus dem Schneider. Die Kranken, die Toten – das sind "die anderen".

Dass dem so ist, lässt sich tagtäglich an lebenden Objekten beobachten. Das fängt an im Supermarkt, wo sich Menschen an den Kassen drängen, anstatt den markierten Abstand zu wahren, und endet bei der Eröffnung eines Möbelhauses inklusive 8000 kauffreudiger Schnäppchenjäger.

Und das, obwohl tagtäglich über die schlimmer werdende Situation in den Spitälern berichtet wird, obwohl mittlerweile hinreichend bekannt sein dürfte, dass die Intensivstationen demnächst voll sind, und obwohl Ärzte und Pflegepersonal glaubhaft versichern, dass sie bald nicht mehr können.

Abstand halten, Mund-Nasen-Schutz tragen, Hände waschen, soziale Kontakte reduzieren: Mehr braucht es nicht, und doch ist das scheinbar so schwierig und für einige unmöglich, das zu verstehen und sich daran zu halten. Man sollte sich schleunigst darauf besinnen, dass eine Gesellschaft nur dann funktionieren kann, wenn sie Verantwortung für sich und ihre Mitglieder übernimmt.

Eine Renaissance des solidarischen Bewusstseins scheint dringend vonnöten. Die Regierung hat für den Schlamassel die Verantwortung zu übernehmen und sollte ihre Strategie dringend überdenken. Wenn wir aber wirklich wieder Licht am Ende des Tunnels sehen wollen, werden wir lernen müssen, mehr Rücksicht aufeinander zu nehmen. Anders wird es nicht funktionieren. (Doris Priesching, 14.11.2020)