
Der Direktor der Justizanstalt Stein, Christian Timm, weist darauf hin, dass auch im Maßnahmenvollzug vom ersten Tag an auf die Entlassung der Insassen hin gearbeitet wird.
Christian Timm ist Direktor der Justizanstalt Stein, in der auch 100 geistig abnorme Straftäter im Maßnahmenvollzug sind. Ihre Einweisung auf unbestimmte Zeit erfolgt bei Urteilsverkündung. Nun will die Regierung auch Terroristen und Gefährder in den Maßnahmenvollzug schicken.
STANDARD: Die Regierung schnürt ein "Antiterrorpaket" und will Terroristen nach Verbüßung ihrer Haftstrafe bei Gefährlichkeit weg sperren, in den Maßnahmenvollzug. Kann das, auch verfassungsrechtlich, funktionieren?
Timm: Grundsätzlich verstehe ich gut, dass man nach so einem Attentat über Optionen nachdenkt, das schuldet man auch Opfern, Angehörigen und Bevölkerung. Man muss aber grundsätzlich reflektieren, am besten im Dialog mit Experten und Wissenschaftern. Im Maßnahmenvollzug gibt es schon jetzt sehr große Probleme – und das, obwohl wir in der Justiz und im Strafvollzug unsere Hausaufgaben gemacht haben. Wir in den Justizanstalten haben u. a. eigene Departments für Insassen im Maßnahmenvollzug geschaffen, die Frau Ministerin ist sehr dahinter und wird zum Beispiel die Justizanstalt Asten weiter ausbauen.
STANDARD: Die Reform des Maßnahmenvollzugs will niemand gern angreifen. So etwas bringt halt auch nicht viele Wählerstimmen?
Timm: Ja. Diese Reform ist ein unpopuläres Thema und kostet viel. Aber wir wissen, dass Nur-Wegsperren nichts bringt, es braucht auch Therapien.
STANDARD: 2015 wurden grobe Mängel im Maßnahmenvollzug, gemäß dem geistig abnorme Täter auf unbestimmte Zeit festgehalten werden, bekannt. Derzeit sind fast 1300 Leute so untergebracht und die Zahlen explodieren.
Timm: Ja, und die 2015 von Experten dringend empfohlene Totalreform des Maßnahmenvollzugs hat nicht stattgefunden. Es fehlt an eigenen Einrichtungen, Fachdiensten und Personal, auch psychiatrischem. Da kann man nicht auch noch Gefährder in den Maßnahmenvollzug schicken, die überhaupt nicht in dieses System passen.
STANDARD: Ginge das rechtlich überhaupt?
Timm: Eher sehr schwierig: Es gelten Menschenrechtskonvention und unsere Verfassung, die die Verhältnismäßigkeit von Freiheitsentzug vorschreibt. Auch bei geistig abnormen Straftätern ist es nicht das gesetzliche Ziel, sie lebenslang da zu behalten. Zielvorgabe ist vom allerersten Tag an, auf ihre Entlassung hin zu arbeiten. Unverhältnismäßig lang dürfte man auch Gefährder nicht anhalten und man kann sie nach meiner Ansicht auch nicht so behandeln wie geistig abnorme Rechtsbrecher. Das kann man in einem europäischen Rechtsstaat nicht machen. Geistige Abnormität höheren Grades ist eine medizinische Frage.
STANDARD: Wenn, dann müsste man ja die Einweisung in den Maßnahmenvollzug schon beim Urteilsspruch verfügen, oder?
Timm: Ich kann mir nicht vorstellen, dass es verfassungskonform wäre, nach Haftende eine nachtägliche Strafe zu verhängen, oder jemanden automatisch in Sicherheitsverwahrung zu schicken.
STANDARD: Die Gefährder sollen so lange in Verwahrung bleiben, bis sie nicht mehr gefährlich sind. Da kommt es aber immer wieder auch zu Fehlprognosen.
Timm: Es gibt schon Indikatoren und Messinstrumente, mit denen man das untersuchen kann, aber wir können in niemanden reinschauen. Bei Gefährdern ist das noch schwieriger, denn sie sind ideologisierte Menschen – und an sie heranzukommen, ist besonders schwierig.
STANDARD: Es gibt die Idee, Gefährder per elektronischer Fußfessel zu überwachen.
Timm: Auch das verstieße wohl gegen das Primat der Verhältnismäßigkeit beim Freiheitsentzug. Außerdem kann man auch mit Fußfessel flüchten, mit Fußfessel Attentate verüben. Das kann keine technische Überwachung verhindern.
STANDARD: Was halten Sie von eigenen Strafanstalten für Terrroristen?
Timm: Das wäre paradox. Wenn man Radikalisierte an einem Ort zusammenleben lässt, würden sie sich noch mehr radikalisieren. Besser ist die Inklusion.
STANDARD: In der JVA Stein sitzen rund 35 Leute, die Sie als radikalisiert einstufen, die meisten sitzen wegen terroristischer Straftaten ein. Wo werden die radikalisiert?
Timm: Die meisten bekommen wir schon von der Gesellschaft in diesem radikalisierten Zustand. Dass in der Haft alles besser und geheilt wird, ist ein Mythos. Die beste Kriminalpolitik liegt in einer guten Sozial- und Wirtschaftspolitik.
STANDARD: Wie kann man Fälle wie die des Attentäters von Wien verhindern? Da wusste eine Behörde von den Informationen der anderen nichts, und fast alles lief schief.
Timm: Es braucht die gesetzliche Verpflichtung zur institutionalisierten Zusammenarbeit der Behörden, zwischen Justiz, Justizvollzug und Polizei – auch während des Vollzugs. Wir brauchen Fallkonferenzen, damit sämtliche Involvierte alle Informationen bekommen. Wir können nicht alle Straftaten verhindern, aber es gibt Luft nach oben. (Renate Graber, 14.11.2020)