Der IWF schätzt, dass die Industriestaaten Ende 2020 mit 125,5 Prozent ihres BIPs verschuldet sein werden. Die Schulden der Eurozone dürften auf rund 101 Prozent ansteigen.

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Kurzarbeit, Härtefallfonds, Umsatzersatz – die Liste der Maßnahmen, mit denen Türkis-Grün die Wirtschaft durch die Corona-Krise stützt, ist lang – und teuer. Rund 50 Milliarden Euro wiegt das Hilfspaket. Zwar sind nicht alle Maßnahmen darin budgetwirksam, die Staatsschuld dürfte angesichts zweier Lockdowns heuer dennoch von 70,5 Prozent auf über 90 Prozent des BIPs steigen.

Ein ausgeglichenes Budget gehört zu den verzichtbarsten Tugenden, wenn es darum geht, die Folgen der Pandemie abzufedern. Nicht nur in Österreich nimmt die Regierung Milliarden in die Hand, um Betriebe und Einkommen zu retten. Gleichzeitig brechen mit der Konjunktur auch die Einnahmen vieler Staaten ein. Das schon vor der Krise mit rund 135 Prozent des BIPs verschuldete Italien wird Ende 2020 laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) unter einem Schuldenstand von fast 162 Prozent ächzen. Die Schulden der Eurozone steigen demnach von 84 auf 101,1 Prozent.

Neue Schuldenkrise?

Droht Europa nach der Corona-Krise eine Schuldenkrise? Wie man nach der Krise mit den Staatsschulden verfährt, wird für Politik und Ökonomen eine zentrale Frage, sagen Experten.

Worin sich Ökonomen einig sind: Die derzeitige Krisenpolitik darf kosten, was sie kostet. Ob und wie Schuldenberge nach der Krise wieder abgebaut gehören, darin scheiden sich allerdings die Geister.

Geht es nach der Modern Monetary Theory (MMT), müssen wir uns überhaupt keine Sorgen um Schulden machen. Diese besagt nämlich, dass Geld für den Staat niemals knapp werden kann, wie Stephanie Kelton jüngst im STANDARD erläuterte – hier können Sie das Interview nachlesen. Allerdings sagte die MMT-Koryphäe auch, dass die Theorie in der Eurozone nicht funktioniere, weil hier kein Staat – sondern die Europäische Zentralbank – monetär souverän sei. Dazu kommt, dass MMT unter Ökonomen eine verschwindend kleine Randposition ist. Martin Kocher, Chef des Instituts für Höhere Studien, schrieb auf Twitter, MMT sei eine Sammlung teilweise bekannter geltheoretischer Überlegungen mit viel wirtschaftspolitischem Wunschdenken.

Schulden mit negativen Folgen

Dass Schulden durchaus zum Problem werden können, sagt Hans Pitlik. Wer hoch verschuldet ist, ist anfälliger für Krisen, erklärt der Wifo-Ökonom, warum die Schuldenstände nach der Krise wieder sukzessive zurückgefahren werden sollten. Außerdem schränken hohe Zinslasten die budgetären Spielräume für Investitionen und Sozialausgaben ein. Wobei letztere Gefahr Österreich wegen anhaltender Niedrigzinsen nicht unmittelbar betrifft. Allerdings wisse man nicht, bei welchem Schuldenstand Anleger das Vertrauen in österreichische oder andere europäische Titel verlieren und höhere Risikoaufschläge verlangen, sagt Pitlik. Es sei besser, wenn man diese "Grenze" nicht testet.

US-Ökonomen hatten im Zuge der Finanzkrise behauptet, die Grenze würde bei 90 Prozent der Wirtschaftsleistung liegen. Diese umstrittene These beeinflusste auch die europäische Sparpolitik.

Eine "magische Grenze", ab der Schulden nicht mehr tragfähig sind, gebe es nicht, sagt Philipp Heimberger, Ökonom am Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Poche man verfrüht auf ausgeglichene Haushalte, würde man die wirtschaftliche Erholung nach der Krise im Keim ersticken. Was es auch nach der Krise brauche, seien Investitionen und Maßnahmen, die den Konsum stimulieren. Viele Experten glauben deshalb nicht, dass Europa jemals wieder zu den bisherigen Fiskalregeln zurückkehren wird.

Gefahr eines Flächenbrands

Laxere Haushaltspolitik heißt aber nicht, dass die Schulden ins Unendliche steigen werden. Zwar werden die Schulden nicht weniger – aber im Idealfall nimmt der Schuldenstand der Euroländer in Relation zur Wirtschaftsleistung ab, beschreibt Heimberger, wie Europa aus den Schulden herauswachsen könnte. Voraussetzung ist, dass die Zinsen niedrig bleiben. Dann seien die Schulden tragfähig.

Klar ist: Ländern wie Italien droht so oder so der Verlust der Schuldentragfähigkeit, wenn sie nicht bald wieder wachsen. Und eine Krise in einem großen EU-Land wird leicht zum Flächenbrand. (Aloysius Widmann, 14.11.2020)