Wien – "Was soll ich machen? Daheimbleiben und vom Sozialstaat leben? Ist es das, was der Staat von mir will?" Talat Allam steht inmitten eines Stroms an Menschen, der die Mariahilfer Straße flutet, und kramt ein Bündel Rechnungen aus seinem Rucksack hervor. "Ich weiß nicht, wie ich das alles bezahlen soll. Der Lockdown nimmt mir meine Lebensgrundlage."

Händler versuchten am Samstag mit hohen Rabatten Ware loszuschlagen. Vor einzelnen Geschäften bildeten sich aufgrund der Zutrittskontrollen lange Menschenschlangen.
Foto: Christian Fischer

55 Jahre ist Allam alt und Vater von drei schulpflichtigen Kindern. Mit einem kleinen Maronistand hat er sich auf Wiens größter Einkaufsstraße selbstständig gemacht. Doch ehe die Saison für ihn begann, ist sie auch schon wieder vorbei. Kommenden Dienstag schließen auf Anweisung der Regierung bis 7. Dezember alle Geschäfte, bis dahin wird auch er auf seinen Maroni und Braterdäpfeln sitzen bleiben.

Bescheidene 40 Euro hat er in den vergangenen Tagen im Schnitt verdient, erzählt er. Auch jetzt zeigen die Wiener wenig Muße, an seinem Ofen zu verweilen. Im Dickicht der Wirtschaftshilfen fühlt er sich als Kleinstunternehmer völlig verloren. "Hat jemand wie ich überhaupt Anspruch auf Förderungen?"

Einkaufen in der Schlange

Fieberhaft eilen Menschen an diesem Samstag an ihm vorbei. Aus der Ferne betrachtet ist es ein vertrautes Bild, das an die letzten Einkaufstage vor Weihnachten erinnert. Der Blick aus der Nähe entbehrt jeder Adventstimmung. "Sehen Sie hier irgendjemanden lächeln?", fragt ein Clown, der bunte Luftballons verkauft. Er stellt sich kommende Woche auf den Weg zum Arbeitsamt ein. "Systemrelevant bin ich ja wohl leider nicht."

Vor Schuhhändlern, die mit hohen Rabatten Ware losschlagen wollen, bilden sich Menschenschlangen über mehrere Häuserblocks hinweg. Die Leute vertreiben sich die Wartezeit mit Telefonieren und becherweise Kaffee. Ob Friseur oder Kosmetikboutique: Viele Läden sind mit Abstand bummvoll. "Das ist erst der Anfang. Das wird noch viel mehr. Kein Wunder, dass alles wieder zusperrt", macht eine Anrainerin ihrem Ärger Luft. Ihr Fett bekommen auch die Gastronomen rundum ab: Dichte Menschentrauben bildeten sich jeden Abend zwischen sechs und acht Uhr vor dem Kebabstand an der Ecke in ihrer Straße, schimpft die betagte Dame. "Eine Goldgrube ist das. Und die Polizei isst mit."

Disziplinlosigkeit

Der Groll eines Händlers entlädt sich lieber an XXXLutz, der mit der Eröffnung eines Möbelhauses mitsamt günstiger Küchen und Schnitzel jüngst für einen scharf kritisierten Kundenansturm sorgte. "Wir alle baden diese Disziplinlosigkeit nun aus."

Jugendliche, die vor den Geschäften an Pizzaschnitten kauen, sehen die kommenden Wochen pragmatischer. Von Verständnis für die neuen harten Maßnahmen angesichts der steigenden Infektionszahlen ist die Rede. Aber auch davon, dass viele zum Einkaufen ins Internet ausweichen wollen. Noch mehr, wenn sie sich in Quarantäne und Selbstisolation begeben müssten.

Getümmel wie an den letzten Einkaufstagen vor Weihnachten. "Sehen Sie hier irgendjemanden lächeln?", fragt ein bald arbeitsloser Clown in der Mariahilfer Straße.
Foto: Christian Fischer

"Warum schließen wir den Handel erst jetzt? Warum nicht schon vor drei Wochen, als die Infektionszahlen niedriger waren und die Umsatzverluste erträglicher gewesen wären?", fragt eine Unternehmerin mit Blick auf das Getümmel. Sie sieht ihr Weihnachtsgeschäft zwischen den Fingern zerrinnen: Drei Wochen hätten ihre Kunden nun Zeit, sich bei Amazon online mit Geschenken einzudecken. "Ich hätte mir gewünscht, dass zumindest kleine Geschäfte offenhalten dürfen."

Wenige Ausnahmen

Bandagist Anderle, vor dessen Tür ein Dutzend Kunden auf Einlass wartet, ist als Systemerhalter vom Lockdown ausgenommen. Für einige Stunden werde man täglich sicher aufsperren, versichert Mitarbeiterin Beate Gebauer. Seit 1877 hält der Familienbetrieb in Wien-Neubau die Stellung, bietet maßgefertigte Handschuhe, Mieder, Strümpfe und Einlagen. "Lassen Sie sich von unserer kleinen Auslage nicht täuschen", sagt Gebauer und deutet durch die Hintertür: Ein ganzer Tanzsaal an Werkstätten und Lager eröffneten sich dahinter. Für sie gibt es in dieser Krise kein Richtig und Falsch. "Wir alle, auch die Regierung, können nur reagieren und ausprobieren. Bei all den finanziellen Hilfen fehlt mir aber ein bisserl die soziale Komponente."

"Wer soll das bezahlen?"

750 Millionen Euro hat Österreichs Handel seit dem Lock-Down-Light im November verloren, rechnet der Handelsverband vor und spricht angesichts der neuerlichen Schließung des gesamten Non-Food-Handels vom Worst Case. Diese käme für die angeschlagenen Betriebe zur Unzeit, zumal damit auch die einkaufsstarken Tage Black Friday und Cyber Monday der Onlinekonkurrenz überlassen werden. Jede Woche Stillstand koste den Handel weitere 900 Millionen Euro Umsatz. "Wie die Gastronomie brauchen auch wir eine Umsatzentschädigung in Höhe von 80 Prozent", sagt eine Modehändlerin. "Aber wer soll das bezahlen?"

Klagen drohen

Die Regierung plant eine Kompensation zwischen 20 und 60 Prozent des verlorenen Geschäfts. Der Handelsverband sieht darin sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung: Einzelne Unternehmen würden bereits eine Klage vor dem Verfassungsgerichtshof in Erwägung ziehen.

Die Kärntner Straße als Goldgrube? Seit Corona herrschte hier Flaute. Nur der Samstag vor dem Lockdown erinnert an für sie bessere Tage.
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Michaela Rosenauer versucht Ruhe zu bewahren, doch die Hektik steht ihr ins Gesicht geschrieben. "Ich fürchte, ich bin in den vergangenen sieben Monaten um Jahrzehnte gealtert." Die junge Wienerin führt in der Neubaugasse ein Zuckerlgeschäft. Während des ersten Lockdowns hielt sie geschlossen, nun hofft sie, über den November hinweg offenhalten zu dürfen. "Wir sind voll mit Saisonware, für Nikolaus, für die Adventzeit. Ich kann Schokolade nicht ein Jahr lang aufbewahren. Ob Abhol- oder Zustellservice – wir versuchen alles, um zu überleben."

Massive Unsicherheit herrscht unter Angestellten. Ihr Dienstplan sehe vor, dass sie am Montag arbeite, erzählt eine Verkäuferin einer großen Textilkette. "Wohin mit meinen drei Kindern, wenn Kindergärten und Schulen schließen?" Eine Mitarbeiterin des Handelsriesen Müller winkt angesichts der Geschäftsschließungen müde ab. Sie müsse auf jeden Fall weiterhin arbeiten. Denn für Müller als Drogerie wie auch für Supermärkte gilt die neue Sperrstunde nicht. "Warum sind Parfums und Spielzeug systemrelevant? Ich werde dafür meine Gesundheit riskieren." (Verena Kainrath, 14.11.2020)