Laut Klimek sei man bei den Corona-Fallzahlen nahe am "systemkritischen Bereich".

Foto: APA / Helmut Fohringer

Wien – Angesichts der aktuellen Covid-19-Entwicklung führte kein Weg am harten Lockdown in Österreich vorbei. "Die Fallzahlen sind viel zu hoch" und ob die täglichen Zuwächse nun 7.000 oder 9.000 betragen, sei fast schon unerheblich, so der Komplexitätsforscher Peter Klimek zur APA. Bis Anfang Dezember lande man hoffentlich bei 1.000 bis 2.000 Neuinfektionen pro Tag. Bis dahin müsse die Lernkurve zu Präventionsmaßnahmen deutlich steigen, um einen neuerlichen Shutdown zu vermeiden.

"Wir sind mit den Fallzahlen am systemkritischen Bereich". Der "Lockdown light" habe zwar offenbar eine "leicht bremsende Wirkung" gezeitigt, die sei allerdings viel zu gering gewesen, um in absehbarer Zeit aus der schwierigen Pandemiesituation herauszukommen. "Daher war eine Maßnahmenverschärfung unumgänglich – die fällt jetzt sehr hart aus", so der Wissenschafter vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) und der Medizinischen Universität Wien am Sonntag.

Fehler sind passiert

In den vergangenen zwei Wochen wurden rund 0,5 Prozent der Bevölkerung positiv getestet. Gehe man davon aus, dass die Dunkelziffer doppelt, drei- oder vierfach höher liegt, ist klar, dass bei größeren Menschansammlungen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Infizierte anwesend sind. "Das Virus ist jetzt so breit in allen Settings und Bevölkerungsgruppen drinnen, dass man auch in jedem Bereich nachschärfen musste", so der Wissenschafter.

Laut Simulationsforscher Niki Popper von der Technischen Universität (TU) Wien zeige sich in der Rückschau deutlich, dass das "Testen, Tracen, Isolieren" schlecht funktioniert hat und ab einem Punkt dann 'exponentiell' zurück gegangen ist". Wäre das Tracing etwa ab September nach asiatischem Vorbild effektiver verlaufen, wäre der Fallzahlen-Anstieg hierzulande um 60 Prozent geringer ausgefallen, haben Popper und Kollegen kürzlich errechnet.

Dass es ein Anwachsen der Fallzahlen unter den lockeren Bedingungen der vergangenen Monate geben wird, wurde in den Prognosen laufend berechnet. Schlussendlich war die Überlastung der Intensivstationskapazitäten (ICUs) Ende Oktober in den Berechnungen nicht mehr auszuschließen. Seit Juli seien sukzessive Faktoren dazu gekommen, die den Anstieg begünstigt haben, – von der Reisetätigkeit im Sommer bis zum relativ normal verlaufenen Herbst.

Nachmeldungen verkomplizieren Situation

Leider habe dadurch der leichte Lockdown, mit dem Ziel der Reduktion der Freizeitkontakte, nicht das Erhoffte gebracht, so Klimek. Aufgrund der unklaren Datenlage mit den vielen Nachmeldungen im Epidemiologischen Meldesystem des Bundes (EMS) konnte das Prognosekonsortium, dessen Teil das Team des CSH ist, auch nicht zuverlässig analysieren, wie die Wirkung bisher war. Ob jetzt Ende der Woche der Höhepunkt erreicht wurde oder nicht, traue sich keiner der beteiligten Experten zu sagen, "weil wir nicht wissen, ob morgen irgendwo noch 2.000 Fälle gefunden werden, die in einer Meldeschiene hängen geblieben sind". Laut Popper sei für die kommenden Tage mit einem langsamen Rückgang der Zuwächse zu rechnen.

Präventionskonzepte notwendig

Der totale Lockdown entpuppte sich in einer internationalen Analyse der Wissenschaftler aus dem Sommer, die überarbeitet Anfang der kommenden Wochen im Fachblatt "Nature Human Behavior" erscheint, jedoch als nicht übermäßig effektiver als andere mögliche Maßnahmenkombinationen. Ob das neuerliche Herunterfahren Österreichs nun auch längerfristig seinen Zweck erfüllt, "kommt auf die Folgestrategie an", so Klimek.

Hier brauche es deutliche Verbesserungen, damit nicht nach dem Weihnachtgeschäft mit vollen Einkaufszentren und Familientreffen in der Folge wieder ein dritter Lockdown unter dem Christbaum liegt. "Deswegen ist so entscheidend, dass wir diese Zeit jetzt nutzen, um sinnvolle Präventionskonzepte auf die Beine zu stellen. Sonst fallen wir wieder auf das zurück, was das Einzige war, das im März und auch jetzt funktioniert hat – nämlich den neuerlichen harten Lockdown", sagte Klimek. Der harte Lockdown wird schon bald Wirkung zeigen, ist sich Popper sicher, "wenn alle mitmachen".

Massenscreenings unter Pädagogen

Ganz zentral ist hier das hinlänglich bekannte "Testen, Tracen, Isolieren", das bekanntlich schlecht funktioniert hat. "Das muss aufgestockt werden. Wenn nicht jetzt, wann dann?", sagte Klimek. Dann müsste auch der Handel mit einem "sinnvolleren Präventionskonzept ausgestattet werden, als wir das bis jetzt gehabt haben". Hier brauche es auch praktikable und datenschutzkonforme digitale Lösungen zur Kontaktnachverfolgung.

Für Popper wäre wichtig, belastbar zu wissen, wo genau, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Randbedingungen ICUs zur Verfügung stehen und wie diese ausgelastet werden können und sollen. Und es müsste jetzt klar definiert werden, wie viele Leute man pro Bundesland zur Kontaktnachverfolgung braucht, und wie die Prozesse aussehen. In der Folge könnte man sich "für den Frühling etwas überlegen und eine nachhaltige Strategie für den Herbst entwickeln, sollte es bis dahin keine andere Lösung wie ausreichende Impfungen geben".

Beim raschen Testen hätten sich in Österreich zuletzt viele neuen Optionen aufgetan. Diese gelte es nun zu nutzen, so Klimek. Da es im Schulbereich so aussehe, dass das Infektionsgeschehen eher vom Lehrkörper ausgehe, könne man drüber nachdenken, in stark betroffenen Gebieten Massenscreenings unter Pädagogen durchzuführen, um großflächige Schulschließungen zu verhindern. Sind die Fallzahlen wieder niedriger, müssten Maßnahmensetzungen auch wieder stärker nach Regionen und möglichst nicht landesweit erfolgen: "Das System mit Ampel, etc. war an sich gut konzipiert, aber es ist an der praktischen Umsetzung gescheitert." (APA, red, 15.11.2020)