Jean-Luc Godard Anfang der 1970er-Jahre. Die Monografie "Der permanente Revolutionär" würdigt nun den bedeutsamen Regisseur.

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Jean-Luc Godard, das Phänomen. Seit 60 Jahren lockt der am 3. Dezember 1930 in Paris geborene Regisseur mit seinen Filmen Publikum und Kritik aus der Reserve. Mit Begeisterung für oder gegen ihn zu sein, diese Wirkung hat der vielleicht einflussreichste Regisseur des modernen Kinos seit seinem Debüt Außer Atem (1959) nie verfehlt.

Der in Berlin lebende österreichische Autor und STANDARD-Mitarbeiter Bert Rebhandl würdigt ihn mit seinem Buch Der permanente Revolutionär. Kenntnis- und detailreich beschreibt er Godards Vorliebe für das Paradox, seinen Widerspruchsgeist und seine Lust, sich mit Mitwirkenden, Kritikern, Produzenten und dem Publikum anzulegen. Er hält sich an die Filme und Fakten, und er lässt Godard selbst die Bühne betreten: "Das Kino ist kein Beruf. Es ist eine Kunst. Es ist nicht das Team. Man ist immer allein, beim Drehen ebenso wie vor der weißen Seite."

Je nach künstlerischer Phase sieht Rebhandl in Godard den subversiven Medienenthusiasten, den Popstar und Revolutionär des Kinos oder den Hipster, der zum Eremiten wird. Als "Pop-Art" betitelt er die Nouvelle-Vague-Phase, die mit Außer Atem beginnt und mit Weekend endet, Godards erstem Abschied vom Kino; einem Film "verirrt im Kosmos, gefunden auf dem Schrotthaufen". Auf formal-ästhetisch höchstem Niveau beschreibt Godard den Weg der bürgerlichen Zivilisation in die Barbarei.

"Video, ergo sum"

"Revolutionskino" heißt die nächste Phase. Der militante Godard bezeichnet sich als "Groupe Dziga Vertov" und dreht mit Renault-Arbeitern "un film comme les autres", den kein Kino haben will. Noch einmal entsteht ein Film mit Stars und dem hoffnungsvollen Titel Tout va bien.

Rebhandl bezeichnet die darin spielenden Jane Fonda und Yves Montand als "Versuchskaninchen in einem Film, in dem ständig reflektiert wird, wie man zwei Stars für eine Geschichte nutzbar macht". Godard verlässt Paris, zieht nach Grenoble und gründet mit der Fotografin und Regisseurin Anne-Marie Miéville die Videogesellschaft Sonimage, mit der sie Serien für das französische Fernsehen produzieren. Was wichtig ist an dieser Phase (Rebhandl nennt sie "Video, ergo sum") und was Godards Arbeit bis heute prägt: Er entdeckt eine neue Technologie für sich, das Video.

Scharnier zwischen zwei Lebensabschnitten

Es entsteht der meisterliche Essayfilm Ici et ailleurs (1976), den Rebhandl als Scharnier zwischen zwei Lebensabschnitten Godards sieht, geografisch, privat und professionell: weg vom militanten Kino, hin zum reflexiven. "Rückbezüglich im wörtlichen Sinne", schreibt Rebhandl, "denn im Zentrum steht das Verhältnis von hier (Frankreich, kleinbürgerliche Gesellschaft, Medienkonsum) zu dort (Palästina, Unfreiheit und Heimatlosigkeit, politischer Kampf)."

Zurück in Rolle, dem Ort an den Ufern des Genfer Sees, realisiert Godard sein viereinhalbstündiges Opus magnum Histoire(s) du cinéma. Es ist eine Philosophie des Kinos, eine Reflexion über die Macht der Bilder und Töne. Man sieht ihn vor seinen Bildschirmen sitzen, er liest, raucht, betrachtet Bilder, tippt Texte und spricht mit flüsternder, melancholischer Stimme. Ein Schemen an der elektrischen Schreibmaschine.

Rebhandl bewertet die Arbeit als Gesamtkunstwerk, das die Sinne und intellektuellen Kapazitäten bewusst überfordert. "Godard schöpft aus der Geschichte des Films, lässt aber kaum einmal eine Sequenz so lange laufen, dass man sie als Teil jenes größeren Ganzen erkennen könnte, dem sie ursprünglich angehört hat."

Vierzig Sekunden

Was Rebhandl besonders interessiert, ist eine vieldiskutierte Passage von vierzig Sekunden, eine Godard’sche Provokation: "Wenn George Stevens nicht als Erster den ersten 16-mm-Farbfilm in Auschwitz und Ravensbrück verwendet hätte, hätte wahrscheinlich das Glück von Elizabeth Taylor niemals einen Platz an der Sonne gefunden." Godards Beschäftigung mit der Shoah, mit Palästina und Israel, hat ihm immer wieder den Vorwurf des Antisemitismus eingetragen.

Es sieht so aus, als habe der späte Godard an den Ufern des Genfer Sees zu sich gefunden. Er leidet, doch was ihn rettet, sind die Filme, die seinem Leiden entspringen. In Adieu au langage sieht man zwischen allen Bildern Godards Hund herumlaufen, das fröhlichste Wesen in dieser Gesellschaft der Zweifler. Seinen jüngsten Film Le livre d’image kann man als Palimpsest begreifen: Schichten von Ideen, Bildern, Gefühlen aus dem Gedächtnis.

Allheilmittel Kino

Rebhandl zitiert am Ende eine Passage des US-Filmemachers Hollis Frampton, die man als Selbstbeschreibung des späten Godard lesen kann: "Wenn ein Zeitalter langsam in ein anderes übergeht, gibt es Einzelne, die die alten Überlebensmittel in neue umwandeln. Diese nennen wir dann Künste. Das Einzige, was von einer Epoche übrig bleibt, sind die Kunstformen, die sie entwickelt hat."

Damit ist auch das Kino gemeint. Für Godard ist es das Allheilmittel, eine Form des Denkens – kein Spektakel zur Zerstreuung. Godard, ein permanenter Revolutionär? Besser passt Anne-Marie Miévilles Bemerkung, was sie auf dessen Grabstein schreiben würde: "au contraire", im Gegenteil.

Das hat noch Zeit. Jean-Luc Godard wird am 3. Dezember erst 90 Jahre alt. (Wilfried Reichart, 16.11.2020)