Aus Sicht mancher Experten hätten Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP), Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) und Co den Lockdown verhindern können und müssen.

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Totales Versagen: Nichts Geringeres wirft SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner der Bundesregierung beim Corona-Management vor. Am Samstag hat die Regierung harte Einschränkungen verkündet, um die Pandemie und die drohende Überlastung in den Spitälern in den Griff zu bekommen. Geschäfte sperren zu, Schulen und Kindergärten schalten auf Notbetreuung um, Ausgangssperren legen das öffentliche Leben lahm. Kurzum: Österreich steckt wieder im Lockdown – und die Sozialdemokraten warnen bereits jetzt vor einem dritten.

Wer Kritiker sucht, wird nicht nur in den Oppositionsparteien fündig. "Der Lockdown hätte verhindert werden können und müssen", sagt Christoph Steininger, Virologe an der Med-Uni Wien, und sieht als Ursache "das Schlafen der Gesundheitspolitik". Die Strategie erinnere ihn an ein Auto, das einmal zu schnell fahre, dann wieder abrupt bremse: "Im Sommer wurde Vollgas gegeben, statt sich vorzubereiten."

Kam der Lockdown zu spät?

Steininger meint damit in erster Linie die Bundesländer. Er sehe kein Land, in dem das Contact-Tracing – das Nachverfolgen der Kontakte eines Infizierten – gut funktioniere: Wenn die Abklärungsraten unter 20 lägen, lasse sich die Pandemie nicht eindämmen. Verabsäumt worden seien aber auch Vorkehrungen an den Schulen – etwa die Anschaffung von mehr Schulbussen auf dem Land, damit Abstandhalten möglich wird. Der Bundesregierung sei vor allem die Ampel, die keine konkreten Konsequenzen gebracht habe, verunglückt. Jetzt aber gebe es angesichts der aktuellen Lage keine Alternative mehr zum Lockdown.

Das sieht Michael Wagner genauso, der harte Schnitt erfolge vielmehr zu spät. Dass es so weit gekommen sei, sei "ein Dokument verfehlten gesellschaftlichen Handelns", sagt der Mikrobiologe von der Uni Wien und schließt in den Befund Politiker, Bürger, Medien und so manchen Experten mit ein. Viel zu viele seien mit der Gefahr der zweiten Welle zu locker umgegangen: "Dabei war absehbar, was auf uns zukommt. Wir sollten aus diesen Fehlern lernen, um eine dritte Welle im Winter zu verhindern."

Auch Wagner kritisiert Defizite des Contact-Tracings sowie der Ampel und erkennt in den Empfehlungen vieler Experten und dem Verhalten im Sommer zu viel "Wunschdenken statt evidenzbasierten Handelns". Ferienreisen ins Ausland seien ein Fehler gewesen, die Öffnungen im Inland zu weitreichend ausgefallen: "Offene Bars, Fitnessstudiobesuche, Chorsingen und vieles mehr vertragen sich leider nicht mit effizienter Pandemiebekämpfung."

Kam der Lockdown zu spät? Für den Simulationsforscher Niki Popper ist das eine Frage der politischen Zielsetzung. Bisher hat man auf einen immer stärkeren Anstieg mit stetig schärferen Maßnahmen reagiert und darauf gebaut, dass das Contact-Tracing mit seinen knappen Ressourcen funktioniert und die Maßnahmen greifen. Ersterem ist nach dem Sommer die Luft ausgegangen, im Oktober zeichnete sich ab, dass der Hut brennt und die Intensivbettenkapazitäten, die im Fokus der Maßnahmen standen, in der zweiten Novemberhälfte erschöpft sein würden – der Lockdown war die Konsequenz. "Wir müssen uns fragen, wie wir mit dieser Strategie in den März und April kommen und ob es bis dahin wieder einen Lockdown braucht oder nicht", sagt Popper. "Das kann man derzeit nicht ausschließen, es hängt davon ab, ob wir Maßnahmen und Testen, Tracen und Isolieren messbar vorbereiten."

Strategiewechsel gefordert

Für Popper ist es nicht zielführend, sich von einem Lockdown zum nächsten zu hanteln. "Wir müssen vielmehr überlegen, wie wir es schaffen können, unter einer konkreten Zielgröße an Neuinfektionen zu bleiben", sagt Popper. Das werde aber nicht gelingen, wenn ein paar Soldaten kurzfristig zusätzlich bei der Kontaktnachverfolgung helfen und keine strukturellen Änderungen passieren. "Wir müssen hier quasi auch exponentiell denken, in einen niedrigen Tausenderbereich kommen und geeignete digitale Prozesse zur Verfügung stellen, von der Erfassung von positiv Getesteten bis zum Umgang mit Kontaktpersonen", erklärt der Experte. Laut Popper braucht es auch regionale Daten, damit absehbar wird, ob die Spitäler noch ausreichend Ressourcen haben und wie die Krisenpläne aussehen.

Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) kündigte einstweilen in der ORF-Pressestunde an, mit Massentests nach dem Vorbild der Slowakei (siehe Infobox) die schrittweise Öffnung im Dezember zu begleiten, zunächst etwa für Lehrer. Diese Tests soll es auch vor Weihnachten geben, dann auch für die Bevölkerung. Die Neos begrüßten das, Rendi-Wagner sieht darin nur eine "Momentaufnahme" und forderte systematische Tests in Alten- und Pflegeheimen, beim Gesundheitspersonal sowie bei Lehrern. (Gerald John, Jan Michael Marchart, 15.11.2020)