Covid-19 ist mittlerweile eine der großen Infektionskrankheiten weltweit. Laut einer britischen Studie und NDR-Analyse hätten die an Covid-19 Verstorbenen im Schnitt noch rund zehn Jahre zu leben. Ob das viel oder wenig ist, hängt auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene davon ab, wie viele Personen das letztlich betrifft. Im schlimmsten Fall könnte das Virus circa 70 Prozent der Bevölkerung befallen; wie viele Lebensjahre würde uns als Gesellschaft dies kosten? Derzeit wird eine Infektionssterblichkeit von etwa 0,3 Prozent angenommen. 70 Prozent der Weltbevölkerung sind grob fünf Milliarden. Damit würden insgesamt rund 15 Millionen Menschen je etwa zehn Lebensjahre verlieren.

Was Infektionskrankheiten betrifft, wäre das in diesem Worst-Case-Szenario ziemlich viel, jedenfalls im Vergleich mit Influenza, Tuberkulose oder HIV, wie eine Studie des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) zeigt. Aber in Anbetracht der weitreichenden Maßnahmen, die weltweit durchgeführt oder geplant werden, müssen andere Faktoren, vor allem wenn sie unsere Lebenserwartung verkürzen, ebenfalls betrachtet werden. Es gibt unzählige Studien über den durchschnittlichen Verlust von Lebensjahren durch die häufigsten Ursachen wie etwa Rauchen oder Übergewicht. Wenig überraschend ist Rauchen Negativspitzenreiter bei etwa zwei verlorenen Jahren (für die gesamte Bevölkerung; wer selbst raucht, muss eher mit sieben Jahren rechnen), Fettleibigkeit liegt bei etwa 1,5 Jahren. Weitere Punkte sind Verkehrsunfälle mit circa 0,5 Jahren, soziale Isolation mit 0,5 Jahren und körperliche Inaktivität mit knapp unter einem Jahr. Letztere sind besonders interessant im Hinblick auf die Frage, ob wir insgesamt Lebenszeit gewinnen oder verlieren, wenn wir Maßnahmen anwenden, die Einfluss auf diese Faktoren haben.

Sind Vergleiche legitim?

Den durch Covid-19 verursachten Verlust an Lebenszeit und Gesundheit gilt es den Kosten des Versuchs, ihn zu reduzieren, gegenüberzustellen. Allein die Gelder, um einige der direkt Geschädigten zu entlasten, belaufen sich in Österreich derzeit auf circa 50 Milliarden Euro, also etwa 5.600 Euro pro Person. Es ist fast unmöglich abzuschätzen, welche volkswirtschaftlichen Kosten aufgrund von Arbeitslosigkeit, Handelsausfällen oder Staatsverschuldung et cetera entstehen. Kaum in Zahlen fassen lässt sich das Bedürfnis nach Kunst und Freizeit oder wie viel es uns wert ist, ob Kinder in angemessenem Umfang Zugang zu Bildung, Bewegung und sozialen Kontakten bekommen. Auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg gibt es schwer abschätzbare Folgen – internationale Hilfsorganisationen befürchten einen deutlichen Anstieg der Weltarmut, der möglicherweise eine große Zahl von Todesfällen weltweit zur Folge haben wird.

Kaum in Zahlen fassen lässt sich das Bedürfnis nach Kunst und Freizeit, ebenso die Frage, wie viel es uns wert ist, dass Kinder in angemessenem Umfang Zugang zu Bildung, Bewegung und sozialen Kontakten bekommen.
Foto: APA/dpa/Marijan Murat

Es liegt in der Natur von Vergleichen dieser Art, speziell wenn es um Menschenleben geht, dass sie einen bitteren Beigeschmack haben. Sind solche Vergleiche überhaupt legitim? Ja, sie sind sogar notwendig: Erstens sind Vergleiche die einzige Möglichkeit, Zahlen von solch astronomischer Größe zu begreifen und dadurch die Sinnhaftigkeit von Maßnahmen mit derartiger Tragweite zu bewerten. Zweitens wird heutzutage oft "vergleichen" und "gleichsetzen" verwechselt, mit negativen Folgen für eine gesunde Diskussionskultur. Drittens sollten wir uns die Frage stellen, ob es möglich wäre, mit dem gleichen Ausmaß an Einschränkungen und Einbußen noch mehr für die Gesundheit zu tun: beispielsweise durch eine weltweite Reduktion des Rauchens und anderer Suchterkrankungen, der Fettleibigkeit oder der Verkehrsunfälle.

Ein anderes Beispiel: Laut Unicef kann man mit einer Spende von 100 Euro "Kinder vor dem Hungertod retten". Spätestens hier wird klar, dass auch andere Menschenleben auf dem Spiel stehen, und wir müssen uns die Frage gefallen lassen, ob wir hier nicht moralisch mit zweierlei Maß messen.

Alle Daten sind den entsprechend verlinkten Studien entnommen beziehungsweise daraus hergeleitet.

Solche Zahlen sind immer mit großen Unsicherheiten behaftet und als Überschlagsrechnung zu sehen; dennoch legen sie die Vermutung nahe, dass es nicht der Verlust von Lebenszeit allein ist, der den weltweit betriebenen Aufwand um Covid-19 rechtfertigt – also, was ist es dann?

Schlechte und sehr schlechte Optionen

Hier können nur Mutmaßungen angestellt werden, aber zunächst ist das plötzliche Auftreten der verhältnismäßig großen Zahl an Todesfällen zum einen erschreckend und zum anderen organisatorisch herausfordernd. Obgleich wir laut WHO jedes Jahr etwa acht Millionen Todesfälle allein durch Folgen des Tabakkonsums verzeichnen, wäre eine einmalige vergleichbare Anzahl über einen kurzen Zeitraum stark bemerkbar. In diesem Zusammenhang ist Verlustaversion ein in der Verhaltensökonomik bereits länger bekanntes Phänomen. Es besagt unter anderem, dass plötzlich auftretende Verluste übertrieben stark wahrgenommen werden. Es besteht kein Zweifel, dass Covid-19 das Leben von Menschen fordert, die sonst nicht gestorben wären. Dieser Tatsache müssen wir ins Auge blicken. Es dauert gemäß der Theorie der Verlustaversion ein wenig, bis dies von uns psychologisch verarbeitet wird und wir unseren sogenannten Referenzpunkt aktualisieren, das heißt, bis wir es, wie andere Todesursachen auch, als normal akzeptieren. Uns muss also bewusst werden, dass wir in Bezug auf diese Pandemie ausschließlich schlechte und sehr schlechte Optionen haben. Das ist unangenehm, doch umso wichtiger ist es, verantwortungsvoll zu erwägen, welche dieser Optionen noch am gelindesten ausfällt, sowohl für die jetzigen als auch für künftige Generationen.

Wenn nicht genügend adäquate medizinische Kapazität im System vorhanden ist, müssen die bedürftigsten Patienten vorrangig behandelt werden (Stichwort Triage), was zweifellos ein ethisches Problem darstellt. Triage bedeutet, vereinfacht gesagt, dass Patienten mit besseren Aussichten vorrangig behandelt werden. Dies gibt Anlass zur Sorge, wie viele Todesfälle aus anderen Ursachen als Covid-19 zusätzlich entstehen könnten. Diese Zahl lässt sich wie folgt eingrenzen: Es können klarerweise nicht mehr Intensivbetten fehlen, als durch Covid-19-Patienten belegt werden. Wenn also je nach Überlebenschancen teilweise Covid-19-Patienten und teilweise andere Patienten behandelt werden, können insgesamt nicht mehr Patienten versterben, als wenn die Gesamtheit der Covid-19-Patienten gar keine intensivmedizinische Behandlung erhielte. Ungefähr jeder zweite künstlich beatmete Covid-19-Patient überlebt, das heißt, im schlimmsten Fall könnte sich die Sterblichkeit ungefähr verdoppeln (wobei hier etwaige Todesfälle aus anderen Gründen als Covid-19 schon inkludiert sind).

Solidarität mit wem?

Ein weiterer häufig genannter Punkt ist der Schutz der Risikogruppen. Sicherlich gilt der durchschnittliche Verlust an Lebenszeit nicht für alle Altersgruppen in der Bevölkerung: Den größten Anteil haben ältere Menschen zu tragen. Andererseits tragen die Jüngeren die Bürde, aus dieser Krise herauszukommen. Wie viel nun eine Bevölkerungsgruppe für eine andere "opfern" sollte, ist eine schwierige Frage; hier wird die Situation sehr komplex. Aktuell besonders betroffen (von Covid-19 oder den Maßnahmen) sind vor allem Senioren, Kinder, Unternehmer und Künstler, um nur einige zu nennen. Welche Gruppe mit welcher nun solidarisch sein sollte, sollte breit und intensiv diskutiert werden können.

Zusammenfassend sei gesagt, dass in solchen Ausnahmesituationen immer die Gefahr besteht, das große Ganze aus den Augen zu verlieren. Eine letzte Statistik noch: In Österreich sterben jede Woche etwa 1.600 Menschen. Was, wenn diese Zahl in den nächsten Jahren über längere Zeit um fünf bis zehn Prozent steigt? Vielleicht weil die Menschen ein wenig einsamer, übergewichtiger oder anfälliger für Rauchen oder anderes Suchtverhalten sind? Diese gefährlichen Risikofaktoren sind bekannt und haben tagtäglich zur Folge, dass unsere Mitmenschen viel zu früh sterben. Dann hätten wir tausende Tote zu beklagen, weil wir allzu leichtfertig diese Faktoren beeinflusst haben. Spätestens dann müssten wir die Frage neu stellen, wer die "Lebensretter" und wer die "Lebensgefährder" waren, die das zu verantworten haben.

In der Medizin ist bekannt, dass starke Wirkungen oft mit starken Nebenwirkungen einhergehen. Wir tappen derzeit völlig im Dunkeln darüber, ob uns die bittere Pille der Maßnahmen insgesamt gesünder macht. Das Mindeste, was wir tun können, ist anzuerkennen, dass wir alle das gemeinsame Ziel haben, Leben und Gesundheit zu schützen. Da es alles andere als klar ist, wie wir dieses Ziel erreichen, braucht es eine ehrliche und faktenbasierte Diskussion aus einer Perspektive, die deutlich mehr umfasst als nur die Corona-Statistik. (Peter Bednarik, 17.11.2020)

Peter Bednarik ist Mathematiker und Wissenschafter an der WU Wien. Er beschäftigt sich mit Spieltheorie, Verhaltensökonomik und experimenteller Wirtschaftsforschung mit Schwerpunkt auf Altruismus und Kooperation.
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