Foto: NewCon Press

Obwohl schon seit 20 Jahren im Geschäft, ist der Brite Simon Morden noch nie ins Deutsche übersetzt worden. Der eine oder andere Leser hierzulande kennt vielleicht seine "Metrozone"-Romane um den Schritt für Schritt zum Cyborg werdenden Samuil Petrovitch. Die zu kennen, bereitet einen auf seinen jüngsten Roman "Bright Morning Star" allerdings auch nicht besser vor als ein Blick auf all die anderen Genres, in denen sich Morden schon versucht hat: Von Fantasy über Lovecraft'schen Horror bis zu Postapokalypsen reicht da bislang die Palette.

Manchmal ist die Bibliografie eben weniger aussagekräftig als die Biografie. Etwa dass sich Morden gerne mit christlichen Themen beschäftigt. Beachten wir den Titel! Denn dass sich der kaum aus der Handlung ableiten lässt, macht seine vom Autor beabsichtigte Bedeutung nur umso interessanter. Originellerweise ist der Morgenstern in der christlichen Mythologie sowohl mit Luzifer als auch mit Jesus Christus assoziiert worden. Wir wissen vorab also nicht, wie wir unseren Protagonisten und Ich-Erzähler – einen autonom agierenden außerirdischen Roboter – einzustufen haben.

Wo bin ich hier gelandet?

Der Beginn würde noch eher zur Hypothese vom gefallenen Engel passen, beschreibt das erste Kapitel doch die "Geburt" unseres namenlosen Protagonisten, soll heißen sein Ausklinken vom Mutterschiff und den höllischen Sturz durch die Erdatmosphäre. Nach diesem rasanten Auftakt geht es auch gleich munter weiter: Gemäß seiner Aufgabe – der biologischen Erkundung der Erde – beginnt der Roboter umgehend damit, Tiere einzufangen und zu sezieren. Nachdem seine Programmierung offenbar kein Sonderprotokoll für den Umgang mit etwaigen Intelligenzwesen beinhaltet, fragen wir uns also etwas bang, wie der First Contact mit Menschen ablaufen wird ...

Tatsächlich folgt schon bald der erste Gewaltakt, allerdings rein intrahuman. Denn ohne es zu wissen, ist der Roboter mitten in einem Kriegsgebiet gelandet; übrigens einem real existierenden, wie sich uns erst mit einiger Verspätung erschließen wird. Da er seine Beobachtungen zunächst natürlich nicht kontextualisieren kann, hält er das gewalttätige Geschehen für den ganz normalen Alltag (womit er leider ja auch nicht ganz unrecht hat). Aber sein Interesse ist geweckt. Und da er rasch erkennt, dass die Menschheit von Pol zu Pol allgegenwärtig ist, beginnt er seinen Auftrag zu modifizieren und sein Hauptaugenmerk auf uns zu richten.

Aus fremden Augen

Der Faktor Kontextualisierung ist es auch, der den Roman in eine erlebnisreiche erste und eine nicht mehr so spannende zweite Hälfte teilt. Zunächst strömen auf den Roboter jede Menge rätselhafter Eindrücke ein, die es einzuordnen gilt, und wir dürfen beim Lesen mitinterpretieren: Ah, jetzt hat er wohl ein Reh gesehen. O, das muss ein Auto sein. Ein grimmiger Höhepunkt dieses ersten Abschnitts ist der lakonische Rapport einer Reihe akustischer und chemischer Messwerte, die uns wegen ihrer Unverständlichkeit fast bedeutungslos erscheinen. Erst nachträglich macht uns der Anblick von 28 Leichen klar, dass wir gerade die abstrakte Beschreibung eines Massakers gelesen haben.

Auch was menschliches Verhalten und Sprache(n) betrifft, muss unser robotischer Erkunder bei Null beginnen. Diese Unklarheiten nutzt Morden primär für ein bisschen Auflockerung zwischendurch. Etwa wenn der Roboter mit seinen ersten menschlichen Weggefährten durchs Gelände wandert und hört, wie sie ständig darüber meckern, nichts zum Essen dabeizuhaben. Gespannt fragt er sich, ob sie der Hunger dazu treiben wird, zu kooperativer Jagd aufzubrechen oder einander aufzufressen.

Ist Moral zwangsläufig?

Doch die Lernprozesse schreiten voran, und etwa zur Hälfte des Romans verfügt der Roboter über eine eloquente Ausdrucksweise und ein – zumindest wohl nach Mordens Ansicht – umfassendes Verständnis dafür, wie die menschliche Gesellschaft funktioniert. Philosophierende Dialoge prägen nun das Geschehen, was sich leider beträchtlich weniger neu liest als die Erkundungstour davor. Und natürlich taucht auch der unvermeidliche Verweis auf die menschliche Widersprüchlichkeit wieder auf: "There are," said Grigory, "unresolvable contradictions in human nature. We create, wie destroy, we love, we hate, we plant, we burn." Wie viele außerirdische Besucher wurden in der SF-Geschichte damit schon konfrontiert?

Ab seinem ersten öffentlichen Auftritt wird der Roboter immer mehr zu einem gesellschaftsverändernden Faktor. Und das trotz seiner beschränkten Mittel: Die Aliens in Arthur C. Clarkes "Childhood's End" konnten noch alles mit überlegener Supertechnologie niederbügeln, Mordens Roboter hingegen ist ein Einzelkämpfer mit beschränkten Möglichkeiten, der auf Überzeugung setzen muss.

Jesus Christ Morning Star

Spätestens wenn sich der Roboter der Welt offenbart hat (auf Social Media!), werden die christlichen Bezüge unverkennbar. Im Orbit kreist das schlicht Mother genannte robotische Mutterschiff, das gewissermaßen seinen eingeborenen Sohn zur Erde geschickt hat. Dass dieser hier den Begrenzungen der Sterblichkeit unterworfen ist, sehen wir schon zu Beginn: Er ist gegen Kugeln nicht gefeit (verfügt im Gegensatz zu Jesus aber immerhin über eine Laserkanone und eine recht rigorose Auslegung von Notwehr). Und während sich die Macht am Himmel in göttlichem Schweigen ergeht und auf keinerlei Kontaktversuche reagiert, beginnt sich ihr Abgesandter zu fragen, ob er tatsächlich aus freien Stücken die Entscheidung getroffen hat, sich den Menschen zuzuwenden. Oder ob er damit einem Plan folgt, der von Anfang an für ihn vorgesehen war.

Die Frage, die Morden in seinem Roman aufwirft, ist durchaus spannend: Entwickeln sich aus neutraler Beobachtung zwangsläufig moralische Wertungen, je weiter sich das Wissen um das Untersuchungsobjekt – also unsere Gesellschaft – vertieft? Und sie scheint auf ein klares Ja hinauszulaufen. Die Botschaft, dass die Welt nicht nur besser werden muss, sondern auch kann, mögen manche etwas naiv finden – andere hingegen erfrischend unzynisch. "Bright Morning Star" ist Science Fiction ganz im Geiste Arthur C. Clarkes, nicht zuletzt was das Verquicken des Wissenschaftlichen mit dem Spirituellen bzw. Religiösen betrifft. Aber selbst Clarke hätte sich insgeheim wohl gedacht, dass die Geschichte ein bisschen mehr Wumms vertragen hätte können.