Das Tischtuch ist zerschnitten, wenn auch nicht gerade "christlich": Eine Karikatur von 1920 zeigt den Niederösterreicher als geizigen Vielfraß.

Wienbibliothek im Rathaus

Am deutlichsten wird die Hassliebe heutzutage vielleicht im Straßenverkehr. Noch immer zieht es den Wiener als Sonntagsfahrer, in Niederösterreich auch traditionell "Hutfahrer" genannt, mit für Landstraßen eher untauglichen 50 km/h zum Schauen zu den "Bauern" hinaus. Der Niederösterreicher wiederum beschert den eingesessenen Wienern, vulgo "Großkopferten", viel Freude, wenn er wieder einmal am Gürtel irrlichternd die Ausfahrt nicht findet.

Das Match endet in Drängeln, Hupen, Geschrei, Herabwürdigung anhand von Kfz-Kennzeichen. Daran konnte selbst die über 25 Jahre demonstrativ vorgeführte Freundschaft zweier auch nicht gerade kleinkopferter Landeshauptmänner nichts ändern.

Und dennoch: Im Vergleich zu jenen Kulturkämpfen, die sich vor 100 Jahren zwischen Wien und Niederösterreich abspielten, ist all das nicht mehr als nette Folklore.

Im November 1920 wurde im Zuge der Ausarbeitung der österreichischen Bundesverfassung jenes Trennungsgesetz beschlossen, das Wien und Niederösterreich zu eigenständigen Bundesländern werden ließ. Die Trennungsfrage war heiß umstritten und stand im Zentrum der Kämpfe um die politische Hegemonie in der noch auf wackeligen Beinen stehenden Republik.

Der Beginn des roten Wien

Bis zum Ende der Monarchie waren Niederösterreich als Erzherzogtum unter der Enns und die inmitten liegende Residenzstadt Wien ein gemeinsam verwaltetes Gebiet gewesen. Die Interessengegensätze zwischen der großen Stadt und dem weiten Land ringsherum waren im Kernland Österreichs lange gering.

Das aber änderte sich mit der Industrialisierung und dem Entstehen der politischen Massenparteien im 19. Jahrhundert. Die Metropole Wien forderte mit ihren zwei Millionen Einwohnern den Bauern immer mehr agrarische Beiträge ab, die Wiener wiederum sahen die zu 80 Prozent von ihnen erbrachten Steuerleistungen zunehmend in der ländlichen Peripherie versickern.

Politisch sei Wien im niederösterreichischen Landtag durch ein Kurienwahlrecht extrem unterrepräsentiert gewesen, erklärt Christian Mertens, Historiker der Wienbibliothek im Rathaus, die ein Buch zum Thema herausgegeben und eine Ausstellung gestaltet hat. Erst mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts drehten sich die Verhältnisse: Den Sozialdemokraten gelang es, bei der Wahl 1919 dank großer Zustimmung in den Städten die Mehrheit im Land NÖ/Wien zu erringen.

Wien aufgeben, um ländliche Dominanz zu retten

Den Christlich-Sozialen dämmerte nun, dass ihre Dominanz am Land nur zu erhalten wäre, wenn man das nunmehr tiefrote Wien loswürde. Auf eine Trennung drängten auch die übrigen Bundesländer, denn Wien/NÖ stellte mit 3,3 Millionen Einwohnern fast 55 Prozent der österreichischen Gesamtbevölkerung – eine Situation, die mit Berlin/Brandenburg und der übermächtigen Stellung Preußens im damaligen Deutschland vergleichbar sei, so Mertens.

Die Trennungsfrage war aber auch begleitet von kulturellen Zerwürfnissen: Am Land hetzten Konservative und Deutschnationale im Verbund mit der katholischen Kirche gegen die "marxistische" und "verjudete" städtische Moderne, das rote Wien igelte sich als trotziges "gallisches Dorf" im schwarzen Restösterreich zunehmend ein. Gemeindebauten aus jener Zeit, wie der Karl-Marx-Hof, haben nicht ohne Grund Festungscharakter.

Wie Wien und NÖ ihre Scheidung vollziehen sollten, darüber gab es verschiedene Pläne: Die Idee eines "Wienerlands", das neben der Stadt auch noch weite Teile des NÖ-Industrieviertels umfassen sollte, wurde verworfen. Ebenso die spätere Fantasie von konservativer Seite, Wien als Freistadt gänzlich abzutrennen und die restlichen Bundesländer als "Alpenland Österreich" staatlich zu vereinigen. Die Liberalen übrigens lehnten eine Trennung mit dem Hinweis auf die Verdoppelung rot-schwarzer Verwaltungsstrukturen ab – heutigen Neos-Positionen ist das nicht unähnlich.

Tausche Landhaus gegen Donauinsel

Über die Aufteilung der Besitztümer feilschten die Scheidungskandidaten zwei Jahre lang: Jede Immobilie, jedes Denkmal, jedes Kunstwerk musste zugeordnet und aufgeteilt werden. Thema war freilich auch, dass NÖ seiner Landeshauptstadt verlustig ging. Die aus heutiger Sicht irrwitzige Idee, ganz Floridsdorf zur neuen Hauptstadt zu machen, wurde mit der Wiener Eingemeindung des Bezirks obsolet. Schließlich blieb Wien selbst Hauptstadt, Sitz der Landesregierung war das Landhaus in der Wiener Herrengasse – heute beherbergt es u. a. die Kunstrepräsentanz des Landes.

Erst 1986 gab sich NÖ in einer Volksbefragung mit St. Pölten eine eigene Hauptstadt. Damals wurde auch ein skurriler Tausch vollzogen: Wien verzichtete auf sein im Trennungsgesetz vorgesehenes Vorkaufsrecht auf das nunmehr politisch funktionslose Landhaus. Im Gegenzug erhielt die Stadt die nördliche Hälfte "ihrer" Donauinsel von NÖ.

Den Phantomschmerz der Scheidung habe vor allem NÖ noch lange verspürt, erklärt Christian Rapp vom Haus der Geschichte in St. Pölten, wo man sich nächstes Jahr in Ausstellungen dem Thema widmen will. Wirtschaftlich habe NÖ ohne die Steuerleistung Wiens lange große Probleme gehabt. Aber auch identitätspolitisch hatte das Bundesland ohne eigene Hauptstadt ein Vakuum zu füllen. Wie Studien aus den 1980er-Jahren zeigen, waren die Niederösterreicher Schlusslicht, wenn es um ihr "Landesbewusstsein" ging.

Identitätspolitik von oben

Die Trennung Wiens von NÖ beraubte das Land seines historischen Zentrums. Versuche, ein Landesbewusstsein zu schaffen, seien "von oben" gekommen, wie Christian Mertens sagt: So sollte schon das 1946 gegründete niederösterreichische Heimatwerk die "niederösterreichische Eigenart" pflegen.

Aber erst mit der Übersiedelung der Landesbehörden von Wien nach St. Pölten sowie Kultur- und Wissenschaftsoffensiven, einer durchaus an Wien orientierten Modernisierung ab den 1990er-Jahren, begannen Niederösterreicher sich stärker als solche zu fühlen. "Das war nicht zuletzt aufgrund des enormen Strukturwandels notwendig", meint Rapp: "Aus dem Bauern- und Industriearbeiterland war in wenigen Jahrzehnten ein Land von Dienstleistern geworden mit anderen Ansprüchen und kulturellen Interessen." Spätestens mit der europäischen Ostöffnung sei der Kulturkampf einem Paarlauf gewichen. Gemeinsame Strategien seien unerlässlich gewesen.

Heute also erscheinen die Länder als glücklich Geschiedene, die sich in vielem näherstehen als je zuvor. Und die sich maximal noch beim Autofahren in die Haare kriegen. (Stefan Weiss, 17.11.2020)