Blauer Himmel und 18 Grad. Heute gibt sich die Natur freundlich in Ushuaia am südlichsten Zipfel Argentiniens. Dennoch hat der Wetterbericht hier noch seine Berechtigung: Wind, Eisstürme, Hagel, Sonne, Regen – alles ist möglich. Die Jahreszeiten vermählten sich in Feuerland an einem einzigen Tag, sagen seine Bewohner über den Landstrich auf zwei Staatsgebieten. Ein Drittel ist chilenisch, zwei Drittel sind argentinisch.

Insellabyrinth

Im Hafen von Ushuaia, mit etwa 60.000 Einwohnern die letzte große Stadt vor Kap Hoorn, hat die Ventus Australis festgemacht. Wie ein zierliches Spielzeug liegt das Kreuzfahrtschiff auf dem tiefblauen Wasser. Kein riesiger Luxusliner, sondern ein wendiges Expeditionsschiff für 210 Passagiere und 60 Crew-Mitglieder. Im Südsommer zwischen Ende September und Anfang April pendelt es zwischen Ushuaia und Punta Arenas in Chile.

In normalen Jahren wäre jetzt Hochsaison, doch wegen der Corona-Pandemie will man erst im September 2021 wieder aufbrechen. Zu aufwendig erscheint es aktuell, für so wenige Menschen einen so großen logistischen Aufwand zu betreiben. Aber in der kommenden Saison heißt es dann erneut, 1.000 Kilometer ohne Telefonnetz und Internetverbindung hinter sich zu bringen, um auf dieser Expeditionstour Feuerlands Insellabyrinth zu erkunden.

Der Leuchtturm Les Éclaireurs steht auf einer unbewohnten Insel im Beagle-Kanal in Argentinien. Social Distancing ist hier kein Thema, und doch sind die meisten Kreuzfahrten in Feuerland bis zur nächsten Saison ausgesetzt.
Foto: Michael Marek

Ushuaia verschwindet vor einem kristallklaren Regenbogen, während man auf dem Beagle-Kanal die unsichtbare Grenze zwischen Argentinien und Chile überquert. Bei Puerto Navarino geht es durch einen schmalen Kanal, den Murray Channel, mit Kurs auf die Isla Hornos.

Es ist ein stürmischer, kalter Vormittag, als das Schiff Kap Hoorn erreicht. Alle haben sich an Deck versammelt. Verpackt in Thermohosen und knallroten, dick gefütterten Sicherheitsjacken soll es für die kleine Touristengruppe gleich losgehen. Doch Kapitän Álvaro Contreras verkündet per Lautsprecherdurchsage seine traurige Botschaft: Poseidons Wellenmaschine hat zu viel Energie. Die Wetterverhältnisse machen es unmöglich, auf der Insel anzulanden.

Gefürchtetes Kap

Vermutlich am 29. Januar 1616 wurde Kap Hoorn vom niederländischen Seefahrer Willem Corneliszoon Schouten entdeckt. Jahrhunderte gehörte die Umrundung des Kaps zu den gefürchteten Schiffspassagen der Welt. Vor der Fertigstellung des Panamakanals 1914 galt der Weg um Kap Hoorn als die einzige befahrbare Route, um Südamerika zu umschiffen. Eine Alternative gab es nicht. Der Weg durch die weiter nördlich gelegene Magellanstraße war für Windjammer unpassierbar – bedingt durch Enge und Gegenströmung. Schätzungen besagen, dass mehr als 800 Schiffe vor Kap Hoorn sanken und etwa 10.000 Seeleute umkamen. Die schnellste Umsegelung gelang 1938 der Viermastbark "Priwall" in nur fünf Tagen. Den Negativrekord hält das deutsche Segelschiff "Susanna", das 1905 ganze 99 Tage für die Umschiffung benötigte.

Die Ventus Australis ist ein wendiges Expeditionsschiff, mit dem man auch durch die engen Kanäle Feuerlands kommt.
Foto: Michael Marek

Heute wohnt auf dem kleinen Eiland ein Angehöriger der chilenischen Marine, immer für zwölf Monate. Es ist vermutlich einer der sichersten, weil isoliertesten Orte – mit oder ohne Pandemie. Zusammen mit seiner Familie kümmert sich der Soldat um die meteorologische Station und leitet die Wetterdaten an vorbeikommende Schiffe weiter. Zugleich demonstriert Chile Präsenz an diesem symbolträchtigen Ort. Denn mit dem Nachbarn Argentinien schwelt ein alter Streit über den Grenzverlauf.

An Bord der Ventus Australis ist die Enttäuschung groß: Die meisten Passagiere wollten in das kleine Postamt von Kap Hoorn, um ein buntes Lebenszeichen in die Heimat zu schicken – versehen mit dem begehrten Sonderstempel. Danach sollte es zum berühmten Monument gehen, das Ende 2014 während eines Orkans teilweise zerstört, aber mittlerweile vollständig erneuert wurde.

Kapitänstradition

Aus dessen massiven, versetzt montierten Stahlplatten wurde im Gedenken an die zahllosen vor Kap Hoorn ertrunkenen Seeleute ein fliegender Wanderalbatros ausgespart. "Man glaubt, dass die Seelen der toten Matrosen in den Sturmvögeln weiterleben", erklärt der Expeditionsleiter Marcelo Gallo. "Eine schöne Legende", sagt der 41-Jährige, der selber schon 600-mal auf Kap Hoorn war.

1937 wurde im französischen Saint-Malo die Bruderschaft der "Kap Hoorniers" gegründet. Auch Álvaro Contreras von der Ventus Australis gehört zu ihnen. Kommandierende Kapitäne, die Kap Hoorn auf einem Frachtensegler ohne Hilfsmotor bezwangen, wurden Ehrenmitglieder dieser internationalen Gemeinschaft. Wahrzeichen ist der Kopf eines Albatros, der im Schnabel ein rautenförmiges Objekt hält. Dieses Symbol stützt sich auf eine alte Tradition: Matrosen befestigten daran als Köder ein Stück salziges Fleisch und warfen es mit einer dünnen Angelschnur aufs Meer hinaus. Sobald ein Albatros anbiss, blieb das Objekt am gebogenen Schnabel des Vogels hängen. Während die Schnur gespannt gehalten wurde, konnte der Vogel nicht entkommen. Die Matrosen zogen ihn aufs Deck, um ihn anschließend wieder freizulassen.

Passagiere an Bord der Ventus Australis vor eisigem Panorama
Foto: Michael Marek

Doch jetzt ist ein Sturm im Anmarsch. Die Passagiere werden nicht anlanden können auf der Isla Hornos, die landläufig als südlichster Punkt Südamerikas gilt. Ganz korrekt ist das zwar nicht, denn die menschenleeren Diego-Ramirez-Inseln liegen 100 Kilometer weiter südlich, aber was sind die schon im Vergleich zu Kap Hoorn? Ein Ort, an dem fast der gesamte Wandel, den die Menschheit über den Planeten gebracht hat, spurlos geblieben ist.

Einige Stunden später erreicht das kleine Expeditionsschiff die Wulaia-Bucht. Hier befand sich einst die größte Siedlung der Yámana, die zu den Ureinwohnern Feuerlands zählen. An diesem Ort geht es in schwarzen motorbetriebenen Schlauchbooten über das eiskalte Wasser. Vorher müssen alle Passagiere zum Schutz des fragilen Ökosystems in einer Wanne ihre Schuhe desinfizieren.

Nomaden des Meeres

An Land geht es wie auf einer Prozession zu. Die Passagiere in ihren orangefarbenen Schwimmwesten watscheln wie die Pinguine hintereinander durch die klinisch saubere Landschaft. In dieser Wildnis findet sich tatsächlich nicht das winzigste Stück Müll, kein Fischernetz, kein Treibgut, kein Styropor.

Die erste Etappe endet an einer verlassenen Radiostation. Drinnen informiert eine kleine Ausstellung über die Geschichte der Region. Vor dem Gebäude hat die chilenische Reederei der Ventus Australis eine einfache Yámana-Behausung aus Laub, Ästen, Moos und Gestrüpp nachbauen lassen.

Die Passagiere in ihren orangefarbenen Schwimmwesten watscheln wie die Pinguine hintereinander durch die klinisch saubere Landschaft.
Foto: Michael Marek

Einst lebten in Patagonien fünf indigene Stämme, erklärt Expeditionsleiter Marcelo Gallo: die Kawéskar, Selk’nam, Aónikenk, Haush und Yámana – allesamt Seefahrer, die durch die Fjordlandschaft Feuerlands zogen. Bevor die weißen europäischen Entdecker kamen, lebten sie inmitten einer wilden Natur und reisten auf dem Meer in ihren kleinen Booten. Sie waren Nomaden des Wassers, lebten von Meeresfrüchten, jagten Seelöwen und rieben sich zum Schutz vor der Kälte mit dem Fett dieser Tiere ein.

Vorurteile und Rassismen

Anthropologen schätzen, dass die Ureinwohner vor rund 10.000 Jahren nach Patagonien und Feuerland kamen. Sie waren Meister darin, sich den Umweltbedingungen anzupassen: Trotz polaren Wetters trugen sie kaum Kleidung, und ihre Körpertemperatur war im Durchschnitt höher als die von Menschen in gemäßigten Regionen. Sie bauten keine Städte, keine Denkmäler und hinterließen kaum Spuren.

Auch der englische Kapitän Robert FitzRoy ging Anfang des 19. Jahrhunderts auf seiner ersten Forschungsexpedition in der Wulaia-Bucht vor Anker. FitzRoy hatte den Auftrag, das Küstenprofil hier am Ende der Welt für die britische Krone festzuhalten. Er fertigte neue Karten an, die 100 Jahre lang benutzt werden sollten. Es war aber auch die Zeit der ganz alten Vorurteile und Rassismen.

Vertrieben und ermordet

FitzRoy beschloss damals, vier Yámana nach England mitzunehmen, um sie zu "zivilisierten Menschen" zu machen. Einer von ihnen ging an Bord im Tausch für einen Knopf – deshalb nannten die Engländer ihn verächtlich Jemmy Button. Über ein Jahr lang lebte der verschleppte Indigene in England, reiste von der Steinzeit ins Zentrum der industriellen Revolution. Danach brachte ihn FitzRoy auf seiner zweiten Expeditionsreise zurück nach Feuerland. Mit an Bord der HMS Beagle: Charles Darwin, der mithelfen sollte, die Gegend zu erforschen und die Einheimischen zu studieren, sich aber in Rassismen verstieg. "Die verächtlichsten und elendsten Geschöpfe, die ich jemals angetroffen habe", sagte der Gründer der Evolutionstheorie über die Yámana.

Erst ab 2021 sind wieder reguläre Fahrten zum Pia-Gletscher oder nach Ushuaia (links) in Argentinien geplant.
Foto: Michael Marek

1883 kamen die Siedler, die Gold- und Glückssucher, die Militärs, die Polizei, die Viehzüchter und die katholischen Missionare nach Feuerland. Die chilenische Regierung unterstützte die Viehzüchter und unterstellte den Indigenen, korrupt zu sein, sie wurden als Viehdiebe und Barbaren beschimpft, und man ließ sie von Kopfgeldjägern verfolgen. Viele der Yámana flüchteten auf die weit entfernte Dawson-Insel, wo sich die Hauptmission befand. Man nahm ihnen ihren Glauben, ihre Sprache und ihre Kanus. Im "Tausch" dafür erhielten sie Kleidung, die mit Bakterien aus der sogenannten Zivilisation verseucht war. Die meisten wurden krank. In weniger als 50 Jahren hatte man die indigenen Völker Feuerlands vertrieben und ermordet. 150 Jahre später machen die feuerländische Stille, die südpolaren Stürme und der Abgrund kolonialer Geschichte noch immer sprachlos.

Unberührtes Eis

Am nächsten Morgen gleitet das Expeditionsschiff vorbei an hunderten kleinen Inseln. Entlang am Pia-Gletscher, einem von 632 Gletschern des Darwin-Eisfelds. Die meisten von ihnen sind bis heute unerforscht und unberührt. Stundenlang könnte man die Berge voller Zacken und scharfkantiger Grate anstarren. Das Weiß wird von leuchtend blauen Linien durchzogen, als hätte jemand Blue Curaçao über den gefrorenen Schnee gekippt. Vor dem Gletscher schwimmen kleine abgekalbte Eisberge. In Zodiacs geht es dann immer näher an die Gletscherzunge – eine Wand, so hoch wie ein Wolkenkratzer.

Das Ende der viertägigen Fahrt ist in Punta Arenas erreicht. 1520 war der portugiesische Seefahrer Ferdinand Magellan bis zur Spitze des südamerikanischen Kontinents gesegelt. Am 1. November soll er die Passage zwischen Atlantik und Pazifik entdeckt haben, an der auch Punta Arenas liegt. Die Stadt und oft letzte Station vor der Antarktis wurde 1848 gegründet. Damals galten Patagonien und Feuerland als ein riesiges Wunderland, eine Terra incognita, Fantasieort der Ruhelosen, von Fernweh erfüllten und von Reichtum träumenden Abenteurer und Auswanderer. Die wenigen Städte wie Punta Arenas und Ushuaia sind umgeben von der endlosen Pampa, dem patagonischen Weideland der Schafe.

Ruhe im Schachbrett

Heute gibt es im Zentrum Designerläden, Fast-Food-Restaurants und Schiffsausrüster. Anmutige Prachtvillen und hässliche Betonbausünden prägen das Stadtbild. Die Straßenzüge sind schachbrettartig wie in den USA angelegt: quadratisch, praktisch, modern. Es fällt schwer zu beurteilen, ob in den jetzt wie leer gefegt wirkenden Straßen zu Normalzeiten mehr los wäre. Herausfinden können das die meisten Besucher erst wieder in der zweiten Hälfte des Jahres 2021. Dann sollen wieder die ersten Kreuzfahrtschiffe mit den Touristen aus Europa und Nordamerika für die Antarktistouren kommen. Und es wird vielleicht wieder etwas weniger Friedhofsstille herrschen.

Der Cementerio Municipal zählt jedenfalls zu den eindrucksvollsten Baudenkmälern Chiles. Manche halten ihn sogar für den schönsten Friedhof des gesamten Kontinents. Gleich daneben an den Kais verschwinden Wolle, Fleisch und Holz in den Staumägen der Frachter. Bei den Fischern sind Muscheln und Königskrabben begehrt, die in Konserven verpackt in die ganze Welt verschifft werden.

Auf dem Stadtplatz steht ein Monument zu Ehren von Fernando Magellan. Machtbewusst mit einem Bein auf einer Kanone, den Kopf triumphierend in die Höhe gereckt, blickt der portugiesische Kapitän in die Ferne. Ihm zu Füßen kauern zwei unterworfene Ureinwohner. (Michael Marek, 22.11.2020)