Mit einer Packung Schüttelbrot als Proviant geht es los. Wie jeden Mittwoch fährt Hannes Pignater mit dem hoteleigenen VW-Bus zu seinen Produzenten, um Leergut abzugeben und neue Waren abzuholen. Startpunkt ist die Adler Lodge, ein zauberbergiges Luxusresort auf dem Südtiroler Ritten, perfekt geeignet für eine Pandemieflucht – zumindest bis vor kurzem.

Lange Zeit hatte Italiens nördlichste Region eine Sonderstellung, was die Corona-Auflagen betraf. Damit ist nun vorerst Schluss, bis 22. November bleiben Hotels, Bars und Restaurants geschlossen. Was die Zukunft bringt, ist, wie überall, unklar. Klar ist, dass Südtirol, Stillstand hin oder her, eine kulinarische Sehnsuchtsregion ist.

Das gemäßigte Klima rund um Meran wirkt sich positiv auf Mensch und Rebe aus. Südtirol ist mit seiner Landschaft, der an Können und guten Produkten reichen Gastronomie sowie dem Wein aus der Region ein guter Ort für Seele und Bauch.
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Mitte Oktober, einige Tage bevor auch Südtirol zum Risikogebiet erklärt wird, empfängt die Adler Lodge ihre Gäste mit den gebotenen Sicherheitsauflagen und bietet bei Abreise Schnelltests an. Vom Ritten geht es den Berg hinunter und dann wieder hinauf, in Schüttelserpentinen und mit herrlichem Ausblick auf Schlern und Dolomiten.

Ziegenherde gegen Burnout

Hannes Pignater, Freizeitlook, Kappe, gute Laune, kennt hier jeden Kastanienbaum. 2014 holte man ihn in die auf der Seiser Alm gelegene Adler Lodge Alpe, fünf Jahre später dann in die Adler Lodge Ritten. "Hier wollte ich immer schon wohnen. Die Natur, die vielen Sonnenstunden ... hier kriegt mich niemand mehr weg", versichert der 38-Jährige und lenkt das Auto geschickt eine schmale Bergstraße hinauf.

Die erste Station der Tour ist Davids Goashof, dessen Besitzer, David Perathoner, mit einer Ziegenherde sein Burnout kuriert hat. Mit solchen, ihrer Heimat verpflichteten Menschen arbeitet Pignater bevorzugt zusammen. Der zweifache Vater drückt es so aus: "Durch unsere Naturverbundenheit schätzen wir das unverfälschte Grundprodukt. Viele davon sind im Rohzustand schon perfekt. Wenn ich deren Geschmack durchs Kochen zum Leuchten bringe, habe ich meinen Job gut gemacht."

Lebensmittelparadies Südtirol

In Südtirol treffen italienische auf österreichische, mediterrane auf alpine Einflüsse. Die Berge geben das Tempo vor: Es ist eine wohlig-deftige Omamaküche, die zwischen Brixen und Meran auf die Teller kommt. Knödel in allen Variationen, Schlutzkrapfen, Strudel und die sich bei den herbstlichen Törggelen-Festen – bevorzugt mit Mitgliedern des eigenen Haushalts – biegenden Tische voller Würste und Speck.

Jede noch so entlegene Berghütte hält einen magenschmeichelnden Kaiserschmarren bereit und tadellosen Kaffee, schließlich sind wir in Italien. Neben diesem regionalen Vorteil sind es vor allem die heimischen Grundprodukte, die Südtirols Küche so verlockend machen. Von Äsche, Bachsaibling und Bergapfelsaft vom überregional bekannten Kohl über Kastanien, hier Keschtn genannt, zu aus Kleinstbetrieben stammendem Käse zum Wein, mit den autochthonen Sorten Vernatsch und Lagrein.

Tausend Gemüsesorten

Oder Emmerskorn-Tagliolini mit Räucherkäse und Wacholderjus oder Kartoffelstrudel mit Sauerkraut, beides Gerichte, für die Hannes Pignater sich an einer natürlichen Lebensmitteltheke bedienen kann, von der seine Kollegen anderswo nur träumen.

Knollenziest ist so ein Beispiel. Die Topinambur-ähnlichen Knollen wachsen vom Goashof aus gesehen am gegenüberliegenden, ähnlich steilen Hang. Auch Harald Gasser kam über Umwege zu seiner Passion. Auf gerade mal einem halben Hektar, mit Blick auf die Brennerautobahn, kultiviert der ehemalige Sozialarbeiter über tausend Gemüsesorten.

Und zwar nach den Prinzipien der Permakultur. Dieses nachhaltige Landwirtschaftskonzept löst bei Bergbauernberatern nur Kopfschütteln aus, weil es ohne Spritzen ihrer Meinung nach nun mal nicht geht. Dass Pignater in den Genuss dieser ultrabiologischen Produkte kommt, liegt auch an seiner jahrelangen Freundschaft mit Gasser. In Südtirol ist das keine Seltenheit – Landwirte sind nicht bloß eine Rechnungsnummer, sondern haben ein Gesicht.

Viele Sterne auf kleinem Raum

Abgesehen von der Adler Lodge liefert der Aspinger Hof auch an den Hangar-7, das im Salzburger Flughafen untergebrachte Gastkoch-Restaurant, und an Norbert Niederkofler. Dessen in den Dolomiten gelegenes, mit drei Sternen ausgezeichnetes Restaurant St. Hubertus ist das kulinarische Aushängeschild einer Region, die auf relativ kleinem Raum 25 Michelin-Sterne bündelt.

Mit seiner ultraregionalen Cook-the-Mountain-Philosophie – kein Oliven-, sondern Traubenkernöl und Weinbeeren statt Zitronen – hat der 59-Jährige eine ganze Generation junger Köchinnen und Köche geprägt.

Philipp Fallmerayer kocht im Brix 0.1.
Foto: Eva Biringer

Einer von ihnen ist Stephan Zippl. Der ehemalige Tischler war Sous-Chef im St. Hubertus, bevor er 2014 ins Parkhotel Holzer in Oberbozen wechselte. Dank Pfauenfedern und Terrazzofliesen ist das Restaurant 1908 das Gegenteil von Berghüttenheimeligkeit. Und doch ist die Küche erkennbar regional: Zirbenwasser und Schüttelbrot mit Liebstöckelmayonnaise zum Aperitif, dann Lachsforelle aus dem Passeiertal mit Platterbse und dem Grillkäse Tomatillo und zum Nachtisch Latschensorbet mit grünen Äpfeln vom Aspinger Hof.

Dazu eine alkoholfreie Cocktailbegleitung (Heidelbeer-Espresso-Martini, Kürbisauszug mit Karamell und Null-Prozent-Bier), die weder Vernatsch noch Zirbengeist vermissen lässt. Zippls ehemalige Tischlerkarriere widerspiegelt sich in seiner Vorliebe fürs Räuchern, Birkenzucker, Holzinfusionen – und Sägespänen im Nachtisch. Auf die Frage nach seinem Heimatbezug erklärt der vom Ritten stammende 32-Jährige: "Wir können hier auf extrem hochwertige Produkte zurückgreifen, das macht es für mich als Koch sehr viel einfacher."

Gute Luft, gutes Gefühl

Das sehen nicht alle so. Philipp Fallmerayer sagt den erfrischenden, lange nicht gehörten Satz: "Einheimische Produkte interessieren mich nicht. Für mich zählt allein die Qualität." Anders als viele seiner Südtiroler Kollegen schert er sich nicht um Ländergrenzen. Zweifellos eine Folge seiner vielen Auslandsaufenthalte, vom Eleven Madison Park in New York über das Noma bis hin zum Burj Al Arab, das vielen als bestes Hotel der Welt gilt.

Irgendwann stellte sich die Frage: Im Ausland bleiben oder nach Hause gehen? Der 32-Jährige entschied sich für Letzteres. "Gute Luft und das Gefühl, jederzeit in die nächste Gondel steigen zu können, sind mir wichtiger, als in Dubai einen Haufen Geld zu verdienen."

Brot und Eis

2016 eröffnete er gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Ivo Messner das Brix 0.1. Das einem Blätterdach nachempfundene Restaurant befindet sich am Ufer eines kleinen Sees, mitten im 30.000-Einwohner-Städtchen Brixen. Auf den Tisch kommen Rindertatar mit Pane Pugliese und Trüffeltagliolini, aber auch Steinbutt mit Avocado, Mango und Shiitake-Pilzen oder Rinderrippe im Tempurateig.

So ziemlich das Gegenteil also von Cook the Mountain, dabei hat Fallmerayer fünf Jahre unter Niederkofler gekocht. Immerhin: Brot und Eis macht er selbst, und der Großteil des Gemüses kommt vom elterlichen Hof. Corona zum Trotz soll nächstes Jahr in München ein Ableger eröffnet werden. Auch im Brix 0.2 will sich der Jungkoch keinem Regionalitätsdogma unterwerfen. "Warum sollte ich Knödel kochen? Das können andere besser."

Speckknödel als Signature-Dish

Karotte mit Haselnuss und Schokolade ist Evelin Franks süßer Gruß aus dem Hotel Muchele in Burgstall.
Foto: Eva Biringer

Möglicherweise Evelin Frank. Auf die Frage nach ihrem Signature-Dish nennt die 43-Jährige ihren Speckknödel 2.0. Eine ausgehöhlte Zwiebel wird mit einem pochierten Wachtelei gefüllt, dazu gibt es Petersiliencreme, Milchhaut und Knödelbrotkrokant.

Serviert wird am Kuchltisch, der Südtiroler Antwort auf den trotz Corona noch immer sehr beliebten Kitchen-Table. Platz daran finden bis zu sechs Personen, natürlich den aktuellen Auflagen entsprechend. Mal schauen, welche das 2021 sind – das Muchele geht nämlich Ende Oktober wie jedes Jahr in die Winterpause.

Verspielter Kochstil

Betrieben wird das in Burgstall gelegene Boutiquehotel von drei design- und genussverliebten Schwestern. Seit fünf Jahren ist Evelin Frank dort Küchenchefin, eine kaum 1,60 Meter große, energiegeladene Frau mit grauem Kurzhaarschnitt und Nasenpiercing. Erfahrung sammelte sie in Wirtshäusern und Berghütten, später auch in Südtiroler Sternerestaurants.

Ihr Kochstil ist verspielt, überraschend und gleichzeitig bodenständig. Als Überraschungsakzent vor dem als Hauptgang servierten Schwertfisch mit Caponata steht eine Piña Colada auf dem Tisch, in Form von Kokossorbet, Ananasespuma und Kokoschips. Ein Seitenhieb auf ihre Wirtshauszeit, wo der Fleischspieß gerne mit Ananas exotisiert wurde – und einer der wenigen Kompromisse, die Wandel zu machen bereit ist. "Wir haben es versucht, ohne Erfolg. Auf Ananas bestehen unsere Hotelgäste nun mal."

Evelin Frank kocht im Hotel Muchele.
Foto: Sophia Schillik / Hotel Muchele

Abgesehen davon achtet die Vintschgauerin sehr auf die jeweilige Saison und bezieht ihre Produkte ausschließlich aus der Region. "Ich bin ein sehr naturverbundener Mensch, liebe die Berge und meine Heimat. Warum sollte ich in die Ferne schweifen, wenn die besten Produkte vor meiner Tür warten?"

Bei all den Nachteilen der gegenwärtigen Krise bringt sie auch ihr Gutes mit sich: die Freude an einfachen Dingen, zu denen eine bodenständige Küche wie die Südtiroler gehört. An Milch, die nicht aus Massentierhaltung stammt, sondern von auf dem Berghang grasenden Kühen, an Gemüse ohne Pestizidbelastung, an handgeformten Knödeln und handgelesenem Wein. Und am praktisch ewig haltbaren Schüttelbrot, mit dem vorherige Generationen schon so manchen dunklen Winter überstanden haben. (Eva Biringer, RONDO, 6.12..2020)