Gehen, weil man Lust dazu hat.

Foto: apa/fohringer

Die neue Verlegerin war in der Stadt. Eine seltene Gelegenheit, über Projekte zu diskutieren. Allerdings: Wir sind mitten im Lockdown. Wo trifft man sich da eigentlich? Was ist jetzt überhaupt noch erlaubt? Entschlossen sagte sie: "Ich würde vorschlagen, wir gehen einfach spazieren." – Super Idee. Warum war ich da nicht von selbst draufgekommen?

Wir flanierten durch den Stadtpark. Das Herbstlaub leuchtete rot und golden. Weiße Schwäne zogen ihre Bahnen über den Teich. Während die Verlegerin sprach, beobachtete ich meine Füße und dachte: Was für ein irrer Retro-Vorgang, in Zeiten von Fahrrad und E-Scooter!

Es war, als hätte uns eine höhere Macht in die Welt von Goethes Werther katapultiert: Der wollte mit seiner Lotte unentwegt durch Auen und Wälder streifen. Hauptsache, in Bewegung, glaubte man damals. So konnte man jemanden überzeugen. So würde man von jemandem erhört.

Auf-und-ab mit Aristoteles

Promenadologie ? Man geht also wieder. Unterbricht den starren Blick auf den Bildschirm, trotz Terroranschlägen, Wahlkrimis und Virenclustern. Nimmt seine Umgebung wahr. Der nervöse Geist entspannt sich beim Koordinieren der Beine. Schon Aristoteles soll seine Schüler im Auf-und-ab-Gehen unterrichtet haben, überzeugt, dass sich das Denken so besser einstelle. Auch spätere Philosophen kamen im Gehen auf Ideen, allen voran Ludwig Wittgenstein.

Abgesehen von Fortbildung und Geschäftsbesprechungen: Ist dieses wiederentdeckte Flanieren nicht auch eine riesige Chance fürs Zwischenmenschliche? So kommen ja nicht nur Gedanken, sondern auch Gefühle ins Rollen. Und, vielleicht am allerwichtigsten: die Fantasie.

Kulturtechnik

"Ich habe eine neue Lieblingsbeschäftigung", erkläre ich am nächsten Tag meinem Freund, dem Bildermaler. "Raus aus den Jogginghosen, runter vom Sofa. Hinaus in die Welt, ohne Plan und Ziel." – "Eh klar", antwortete er. "Nur so hat der Zufall eine Chance. Nur so wächst du über deine Selbstbeschränkungen hinaus." – Er selbst liebe Spazierengehen schon lange.

Das sei schließlich keine banale Freizeitaktivität, sondern eine Kulturtechnik, die sich mit Beginn des bürgerlichen Zeitalters entwickelt habe. Ein soziales Ritual der Präsentation, des Sehen-und-Gesehenwerdens. – "Was heißt das in deinem Leben, konkret?" – "Dass ich, sobald ich auf die Straße gehe, für alles, wirklich alles, offen bin."

Halten wir also fest: Man geht, weil man Lust dazu hat, und nicht, um irgendwo anzukommen. Der Rest bleibt voller Möglichkeiten. (Ela Angerer, RONDO, 25.11.2020)