Christa Wirthumer-Hoche, Leiterin der Medizinmarktaufsicht bei der Ages, vertritt Österreich in Fragen der Arzmeimittelzulassung in der Europäischen Arzneimittelagentur.

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Einstweilen haben drei Impfstoffkandidaten die Nase vorne und ihre Dossiers zur Zulassung bei der EMA eingereicht.

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STANDARD: Die ganze Welt wartet gespannt darauf, dass ein Impfstoff gegen Corona kommt. Die Studien sind sehr weit fortgeschritten, sagen nun drei Firmen, der Impfstoff wirkt, wurde gerade verlautbart. Jetzt seien die Behörden am Zug. Was genau passiert also gerade?

Wirthumer-Hoche: Vielleicht eines vorweg: Die Zulassung für diesen Impfstoff wird im Wesentlichen so verlaufen wie alle anderen Arzneimittelzulassungen auch, nur in zeitlich komprimierter Form. Entscheidend für uns als Behörde ist die Qualität, die Wirksamkeit und die Sicherheit des Produkts. Das sind die zentralen Punkte, die die Antragsteller belegen müssen.

STANDARD: Wie genau wird das gemacht?

Wirthumer-Hoche: Entscheidend sind die Daten und Unterlagen, die in einem Zulassungsdossier vom Antragsteller den Behörden zur Verfügung zu stellen sind. Dieses Dossier muss im Format eines Common Technical Document (CTD) eingereicht werden. Dieses besteht aus fünf Modulen mit genauen Vorgaben. Dabei geht es um die Sicherstellung von Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit, für die es jeweils festgelegte wissenschaftliche Vorgaben gibt, die es zu erfüllen gilt.

STANDARD: Wie sieht so ein CTD denn konkret aus?

Wirthumer-Hoche: Es ist ein sehr umfangreiches digitales Dokument. Würde man es ausdrucken, wären es viele, viele Laufmeter an Papier, die aus Text und unzähligen Tabellen bestehen. Diese Daten werden von einem Expertengremium geprüft.

STANDARD: Haben Sie dieses Dokument für den ersten Covid-19-Impfstoff schon gesehen?

Wirthumer-Hoche: Nein, denn noch wurde es von den Firmen nicht komplett eingereicht. Die Daten, die derzeit bekannt wurden, sind sozusagen Teilergebnisse, die das Unternehmen vorab und eigenständig publiziert hat. Ein vollständiges CTD, das den Behörden vorliegt, gibt es noch nicht. Wann genau das bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) eingereicht wird, entzieht sich meiner Kenntnis. Wir erwarten es demnächst.

STANDARD: Wie läuft die Prüfung dann tatsächlich ab?

Wirthumer-Hoche: Nominierte Experten der nationalen Arzneimittelbehörden der EU-Mitgliedstaaten treffen sich regelmäßig im Rahmen der europäischen Arbeitssitzungen zur fachlichen Beratung und Abstimmung über neu zuzulassende Arzneimittel. Dieses Gremium heißt Committee for Human Medical Product for Human Use (CHMP), jeder Mitgliedstaat ist dort durch einen Vertreter präsent.

STANDARD: Haben Sie sich die ganze Zeit getroffen?

Wirthumer-Hoche: Seit Beginn der Pandemie online. Im CHMP werden die Experten bestimmt, die die Unterlagen der neuen Covid-Impfstoffe hauptverantwortlich prüfen. Konkret sind es zwei Teams aus jeweils unterschiedlichen Arzneimittelbehörden der EU-Mitgliedsstaaten, die unabhängig voneinander das Dossier eines Antragstellers prüfen werden. Dann erstellen sie einen Bewertungsbericht. Ein zusätzliches Team aus einem dritten Mitgliedsland führt begleitend die Peer-Review (Begutachtung durch Berufskollegen, Anm.) durch.

STANDARD: Wie setzen sich diese Teams zusammen?

Wirthumer-Hoche: Im zentralen Verfahren der Arzneimittelzulassung werden ein sogenanntes Rapporteurteam und ein Co-Rapporteurteam ernannt. Diese bestehen jeweils aus circa zehn bis zwölf Experten aus unterschiedlichen Fachrichtungen wie Pharmazeuten, Mediziner, Biologen, Statistiker. Je nach Expertise bekommen sie die Aufgabe, die Unterlagen im Dossier auf Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels zu prüfen. Jedes dieser Teams hat zusätzlich auch noch einen Case-Manager, der die Koordinierung in den Teams übernimmt.

STANDARD: Was ist das Ziel?

Wirthumer-Hoche: Ziel der ersten Phase im Verfahren ist es, einen Gutachtenentwurf zu erstellen, meist ist es eine Mängelliste, die durch die Antragsteller zu beheben ist.

STANDARD: Wie lang dauert die Prüfungsphase?

Wirthumer-Hoche: Normalerweise 210 Tage aktive Zeit in Summe. Für die Covid-Arzneimittel besteht die Möglichkeit eines Expressverfahrens von 150 Tagen. Das ist im Falle einer Gesundheitskrise so vorgesehen. Wohlgemerkt 150 Tage maximal: Wir können davon ausgehen, dass die Rapporteurteams aufgrund der Dringlichkeit Tag und Nacht arbeiten und damit früher fertig werden.

STANDARD: Was passiert, wenn die Experten mit ihrer ersten Begutachtung fertig sind?

Wirthumer-Hoche: Beide Rapporteurteams legen dem Committee of Human Medical Product ihre Entwürfe der Bewertungsberichte vor, die Vertreter der Länder diskutieren danach miteinander offene Fragen oder Zweifel. In diesem Diskussionsprozess kann es dazu kommen, dass sich zusätzliche Fragen an den Antragsteller ergeben. Es kann sein, dass daher Daten nachgereicht werden müssen, und es besteht die Möglichkeit, den Antragsteller zu einer Anhörung, einem "oral hearing", ins CHMP zu laden.

STANDARD: Dieser Prozess kann aber auch lange dauern?

Wirthumer-Hoche: Ja, wenn es notwendig ist, schon, aber genau damit garantieren wir ja die Sicherheit. Wie gesagt: Dieser Prozess der Prüfung hat sich auch für die Covid-19-Impfstoffe nicht verändert. Das ist mir wichtig, das auch immer wieder zu betonen, weil es manche gibt, die denken, dass das, was in der Behörde jetzt augenscheinlich sehr schnell geht, nicht vertrauenswürdig genug sei.

STANDARD: Und wenn Sie zu einer positiven Bewertung gekommen sind, was dann?

Wirthumer-Hoche: Wenn ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis eindeutig festgestellt worden ist, schickt die Europäische Arzneimittelagentur ihre Empfehlung für die Zulassung an die Europäische Kommission. Und diese trifft dann die Entscheidung und lässt das Arzneimittel zentral zu. Diese Zulassung gilt in allen europäischen Mitgliedsstaaten. Es stimmt also keineswegs, dass die nationalen Behörden aller Mitgliedsstaaten den Zulassungsprozess noch einmal durchlaufen müssen.

STANDARD: Warum dauern solche Verfahren im Normalfall viel länger?

Wirthumer-Hoche: Normalerweise müssen sämtliche Studien und Tests vollständig abgeschlossen und auch das gesamte Zulassungsdossier entsprechend aufbereitet sein, bevor eine formale Einreichung möglich ist. Aufgrund der Dringlichkeit in der Pandemie wurde jedoch ein neues Verfahren, der sogenannte "Rolling Review", etabliert. Das heißt: Der Hersteller wird laufend Teilbereiche aus der Entwicklung, der Herstellung und auch aus den Studien vorab zur Begutachtung zur Verfügung stellen.

STANDARD: Warum?

Wirthumer-Hoche: Es ermöglicht den Behörden eine zur Entwicklung des Impfstoffs überlappende und gestaffelte Bewertung. Man kann sich das wie eine Art Puzzlespiel vorstellen. Der Zulassungsprozess ist jedenfalls erst dann abgeschlossen, wenn alle Teile des Puzzles wieder zusammengesetzt sind. Was sonst in einem Guss gemacht wird, findet also in Teilabschnitten und dadurch im Endeffekt eben rascher statt.

STANDARD: Doch es gibt beim Corona-Impfstoff Fragen, die rein zeitlich nicht zu beantworten sind, etwa wie lange ein Impfschutz anhält. Was, wenn sich herausstellt, dass ein Impfstoff rein zeitlich immer nur ein paar Monate wirkt?

Wirthumer-Hoche: In jedem Zulassungsdossier ist immer auch ein Risk-Management-Plan enthalten. Zum Zeitpunkt der Zulassung wird festgelegt, welche weiterführenden Studien ein Unternehmen in der Folge liefern muss. Auch das ist ein Instrument, um die Sicherheit langfristig zu gewährleisten und die Unternehmen zu verpflichten, weiter zu forschen und der Behörde die Daten zu übermitteln.

STANDARD: Mit welchem Ziel?

Wirthumer-Hoche: Daten zur Wirksamkeit in den unterschiedlichen Alters- oder Risikogruppen zu liefern zum Beispiel. Die wird es erst bei einer breiten Anwendung des Impfstoffs geben. Der Risikomanagement-Plan ist sozusagen eine weitere Sicherheitsschranke, um noch mehr Detailwissen zu generieren.

STANDARD: Ist es je vorgekommen, dass die Zulassung für ein Medikament wieder zurückgezogen wurde?

Wirthumer-Hoche: In sehr seltenen Fällen werden vereinzelt, wenn sich die Datenlage wesentlich ändert oder sich das Nutzen-Risiko-Verhältnis in einem anderen Licht darstellt, Arzneimittel auch wieder vom Markt genommen. Meist werden durch die neuen Daten jedoch Anwendungsbedingungen und Vorsichtsmaßnahmen ergänzt oder geändert. Die zusätzlichen Erfahrungen mit dem Arzneimittel werden dann in Fach- und Gebrauchsinformation aufgenommen, die ja auch die Grundlage für die Zulassung sind.

STANDARD: Während der Pandemie sind die Zulassungsverfahren in den USA anders als in der EU. Inwiefern eigentlich?

Wirthumer-Hoche: In den USA gibt es in dieser Ausnahmesituation die sogenannten Emergency Use Authorizations, doch die Vorgaben, die ein Medikament zu erfüllen hat, sind gleich. Der Emergency Use in den USA gilt jedoch nur, wenn es einen "medical need" gibt, also eine medizinische Notwendigkeit. Wir in Europa regeln das durch eine "Conditional Marketing Authorization", also eine Zulassung verbunden mit Auflagen, unter der Bedingung der weiterführenden Erforschung eines Medikaments.

STANDARD: Wenn die FDA schneller als die europäischen Behörden zulässt: Beeinflusst das die Entscheidung der EMA?

Wirthumer-Hoche: Es erhöht den Druck, ganz sicher. Doch die Anforderung der unabhängigen, komplette Bewertung von Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit eines Medikaments bleibt gleich. Die vorgelegten Unterlagen im Zulassungsdossier großer Pharmafirmen sind gleich, das ist ja auch der Sinn eines CTD – des gemeinsamen Dossiers.

STANDARD: Wird die EMA auch Impfstoffe aus China prüfen? Dem Vernehmen nach soll es auch dort große Fortschritte geben.

Wirthumer-Hoche: Das kann ich nicht ausschließen, aber es hängt nicht von uns ab. Generell ist es so, dass der Antragsteller eines Medikaments auch einen Unternehmenssitz in der EU haben muss, wenn er eine zentrale Zulassung in der EU beantragt. Wenn dies der Fall ist, dann kann auch das Dossier für einen Impfstoff, der in China produziert wird, einen Antrag auf Zulassung bei der EMA stellen.

STANDARD: Viele Pharmafirmen hatten aber doch einen Sitz in Großbritannien?

Wirthumer-Hoche: Die Bedingung, dass Zulassungsinhaber einen Sitz in der EU haben müssen, war für viele Pharmafirmen, die in Großbritannien beheimatet sind, ein Problem. Durch den Brexit waren sie gezwungen, einen Firmensitz in der EU zu eröffnen. Aber dies ist nur eines der Probleme, die durch den Brexit aufgeworfen wurden.

STANDARD: Zum Schluss die alles entscheidende Frage: Wann, denken Sie, kommt der Impfstoff, wird also tatsächlich geimpft werden?

Wirthumer-Hoche: Nach dem Rolling Review, sobald das Zulassungsdossier komplett ist, kann es schnell gehen. Die Co-Rapporteurteams werden mit Hochdruck arbeiten, und wenn sich die Daten als überzeugend herausstellen, kann es sehr rasch gehen. Bis Jahresende oder Anfang nächsten Jahres, allerdings ist dies der Idealfall. Damit könnte man noch im ersten Quartal 2021 mit einer Impfung rechnen. Aber wie gesagt: Noch müssen die Antragsteller validierte Daten vorlegen. Davon hängt alles ab. Die Pressemitteilungen der Pharmafirmen sind für uns als Behörden keine Entscheidungsgrundlage.

STANDARD: Es wird eine Reihe von Covid-19-Impfstoffen erwartet. Werden sie alle nach diesem Prozedere zugelassen werden?

Wirthumer-Hoche: Ja. Wichtig ist letztendlich, dass sich jeder Mensch mit einem qualitativ hochwertigen, wirksamen und sicheren Impfstoff impfen lassen kann. (Karin Pollack, 18.11.2020)