Die Welt und ihre Absurditäten mit den Augen eines Kindes sehen. Jonathan Richman bringt diese Kunst zur Meisterschaft. Sein zeitlos charmantes Album "I, Jonathan" von 1992 ist nun erstmals auf Vinyl aufgelegt worden.

Foto: Meals / Craft Rec.

Normalerweise bricht einen die Schule. Die stärkt so zwar im besten Fall die Resilienz Heranwachsender, die kindliche Begeisterung fürs Neue geht aber spätestens dann drauf, wenn kreative Lösungsansätze in Mathematik oder Chemie wiederholt von fantasieschwachen Pädagogen mit einem "Nicht genügend" beurteilt werden.

Einer, der seine Begeisterung trotz pädagogisch wertloser Demütigungen behalten hat, ist Jonathan Richman. Der US-amerikanische Musiker ist so etwas wie ein Alleinunterhalter mit Band – mit all dem sympathischen Elend des Fachs und all der Hartnäckigkeit, die es dafür braucht. Seine Verehrung für die New Yorker Band The Velvet Underground brachte Richman dazu, es im Musikbusiness zu versuchen. Die so entstandene Karriere besteht aus exotischen Hits, einer Existenz an der Wahrnehmungsgrenze sowie einer späten Anerkennung. Das Auf und Ab veränderte aber nie das missionarische und missionarrische Wesen Richmans.

1992 erschien im Lärm des Grungerock das Meisterwerk des 1951 in Massachusetts geborenen Musikers: I, Jonathan. Es beinhaltet einige seiner besten Songs und wurde nun erstmals auf Vinyl aufgelegt. Das Coverbild illustriert sein juveniles Wesen, dabei war Richman 1992 bereits ein alter Hase.

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1970 hatte er die Modern Lovers gegründet, die als Proto-Punk in die Geschichtsbücher eingingen und Richman bekannt machten – sein Untermieterdasein auf der Couch des Velvet-Underground-Managers Steve Sesnick vermochte das nicht. Solo und später als Jonathan Richman and the Modern Lovers ließ er den Rock ’n’ Roll der 1950er hochleben, während er wie ein Hippie-Kind in Blumenhemden und Hosen mit dem Schnitt der Pummerin auf der Bühne stand.

Ägyptischer Reggae

Die Offenherzigkeit seiner Songs und ihre ironiefreie Darbietung erweichte selbst steinerne Herzen. Nebenbei warf diese Kunst mit Roadrunner oder dem infizierenden Instrumental Egyptian Reggae tatsächlich Hits ab. Vor allem Europa erlag dem Mann mit dem Antlitz und den Locken eines knackigen griechischen Gottes.

So erspielte er sich über die Jahre und viele Alben eine hartnäckige globale Fangemeinde, doch die synthetisierten 1980er ließen die Nachfrage an Richman deutlich sinken. Gegen Ende des Jahrzehnts tingelte er solo durch kleine Clubs, schrieb aber ungebrochen weiter verwegene Songs über die Liebe und die Seltsamkeiten des Alltags eines Middle-Agers im Matrosenleiberl.

Jonathan Richman - Topic

Mit dem Umsturz des Mainstreams Anfang der 1990er erlangten Underdogs wie er neue Aufmerksamkeit. I, Jonathan wirkt davon zwar unbeeindruckt, als dass Richman einfach seine Mission fortführte. Doch die zehn, mit ökonomischer Band eingespielten Folk-Rock-Songs, waren und sind in ihrer autobiografischen Färbung so mitreißend wie entwaffnend.

Es beginnt mit der Teenage-Eloge Parties in the U.S.A, die Lieder wie Louie Louie zitiert. Dann grüßt Tandem Jump die Stooges, Richmans Beobachtungen in dem Beziehungsdrama You Can’t Talk To The Dude kennt jede/r, sein Kniefall vor Velvet Underground im gleichnamigen Song wirkt wie der Höhepunkt – was I Was Dancing In The Lesbian Bar aber gleich darauf überbietet.

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Da erzählt er über einen Freitagabend und den Versuch, in einer Bar zu tanzen – was ihm nur böse Blicke mürrischer Männer einträgt. Dann fordern ihn Kids auf, mit ihnen in die Industriezone der Stadt zu kommen, dort geht es ab: "I was dancing in a Lesbian Bar!" – Alles immer dargeboten mit bestechenden Hooklines, eloquenten Texten und dem Charme eines entwaffnenden Lächelns. Seite zwei fällt nicht wirklich ab, doch allein die fünf Genialitäten der ersten machen diese Platte schon zum Meisterwerk.

Von Bowie bis M. I. A.

Das blieb der Welt nicht verborgen, die 1990er meinten es gut mit Richman. Er war Stammgast in David Lettermans Show, Neil Young nahm ihn für sein Label Vapor unter Vertrag und 1998 verlieh ein Auftritt in dem Blockbuster There’s Something About Mary (der Sperma-mit-Haargel-verwechselt-Film mit Ben Stiller) seiner Karriere einen immensen Schub. Sein Werk inspirierte David Bowie, John Cale, die Violent Femmes – sogar die Rapperin M. I. A. erlag seiner Kunst.

Bis heute veröffentlicht er ungebremst, schlechte Musik ist nicht darunter. Neben allem anderen ist die hervorragende Kompilation No Me Quejo De Mi Estrella von 2014 zu empfehlen – doch der Maßstab seiner Solokarriere ist und bleibt das meilensteinige I, Jonathan. (Karl Fluch, 17.11.2020)