Aus einem Gefäß für den Bierkonsum kann rasch eine gefährliche Stichwaffe werden, wie ein Körperverletzungsprozess am Straflandesgericht Wien zeigt.

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Wien – Eine wesentliche Erkenntnis ist im unbescholtenen Gerhard S. während seiner Untersuchungshaft gereift: "Für mich gibt es nur mehr 133", schwört er in Konfliktsituationen künftig auf die Notrufnummer der Polizei. Das verspricht er zumindest dem Schöffengericht unter Vorsitz von Gerald Wagner, vor dem sich der 35-jährige Kellner wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung verantworten muss.

Er soll am 12. August vor einem Lokal in Wien-Simmering mit dem abgebrochenen Henkel eines Bierglases mehrmals auf seinen Kontrahenten, den 39 Jahre alten Andreas L., eingestochen haben. "Die beiden sind schon länger keine Freunde", informiert Verteidiger Noah McElheney in seinem Eröffnungsplädoyer.

Gemütliches Treffen bei "Sand in Simmering"

Der Angeklagte, der sich schuldig bekennt, führt die Vorgeschichte noch etwas aus. Er habe am Geburtstag seiner Tochter einen gemütlichen Abend in einer Runde bei der Veranstaltung "Sand in Simmering" am Enkplatz verbracht. Der den Konsum von fünf bis sechs Bier und eines Cuba Libre beinhaltete. Da er die Kellnerin kannte, sei das Rumgetränk "ein Freundschaftsmix" gewesen, wie er zugibt.

Er ließ sich die gute Stimmung auch nicht durch L.s Erscheinen nehmen, mit dem es in der Vergangenheit schon Schwierigkeiten gegeben habe, wie S. behauptet. Tatsächlich blieb es aus der Sicht des Angeklagten ruhig, bis L. am Tisch ihn unvermittelt mit: "Wos is jetzt übahaupt mit dir?" anredete. Es sei ein Wortgefecht entstanden, er habe dann beschlossen, in ein nahes Café zu wechseln, sagt der Angeklagte.

"Dort habe ich mir ein Bier bestellt zum Runterkommen", beschreibt S. seine Reaktion auf die verbale Auseinandersetzung. Er konsumierte das Getränk am Stehtisch vor dem Eingang – zehn Minuten später kam L. mit Bekannten und betrat das Lokal.

Angeklagter hörte Provokationen

"Ich konnte durch die große Glasscheibe sehen, wie er weiter über mich geschimpft hat, manchmal habe ich auch etwas gehört", erinnert sich der Angeklagte. Beispielsweise L.s Einschätzung über seinen Mut: "Der Woame traut si eh nix, des is eh a Homo", soll das Opfer beschieden haben.

"Was haben Sie dann gemacht?", fragt Vorsitzender Wagner. "Ich habe die Fehlentscheidung getroffen, dass ich ihm gedeutet habe, er soll rauskommen", drückt S. sich gewählt aus. Seine Vorbereitung auf das Treffen war weniger edel: Er zerbrach seinen Bierkrug, mit dem Henkel attackierte er L., als der die Eingangstüre öffnete. "Ich habe in Wahrheit mit Kampf nicht viel Erfahrung. Ich habe auf den Oberkörper und die Arme gezielt", entschuldigt S. sich.

Die Folgen für das Opfer waren und sind schwer. Zwei Finger und der Daumen seiner linken Hand sind de facto noch immer gelähmt. "Bei einem Kontrolltermin wird entschieden, ob ich nochmals operiert werden muss", erklärt der Verletzte dem Gericht. Die Ärzte wüssten derzeit aber noch nicht, woran die Bewegungseinschränkung genau liege.

"Den Zampano gespielt"

Was vor dem Angriff passiert ist, hat der bullige L. ganz anders in Erinnerung. "Er hat am Enkplatz irgendwas über mich geredet, da habe ich gesagt: ,Wennst ma wos zum sogn host, sog ma's in's Gsicht!'" Die Reaktion von S. habe ihn überrascht: "Er hat sich schon ausgezogen und den Zampano gespielt", behauptet der Zeuge, der kleinere L. habe sich mit erhobenen Fäusten in Kampfstellung begeben.

Auch später im Lokal sieht der Arbeitslose sich als unbeteiligtes Opfer. "Der Angriff kam völlig überraschend von der Seite", stellt er fest. "Aber der Angeklagte hat Ihnen ja gedeutet, dass Sie herauskommen sollen?", ist der Vorsitzende skeptisch. "Ja, aber ich wollte eigentlich heimgehen und nur fragen, was er für ein Problem hat", hört Wagner als Antwort.

Da ein medizinisches Gutachten benötigt wird, um festzustellen, ob die Tat schwere Dauerfolgen verursacht hat und L.s Hand eingeschränkt bleibt, vertagt Wagner auf unbestimmte Zeit. (Michael Möseneder, 17.11.2020)