Lernen Schulen aus der Krise? Der Bildungsexperte Michael Schratz listet im Gastkommentar auf, was gutes Distance-Learning jetzt ausmacht.

Seit Dienstag bleiben die Pflichtschulen geschlossen. Sie wurden auf Distance-Learning umgestellt. Wer für sein Kind eine Betreuung braucht, darf es aber weiterhin in die Schule schicken.
Foto: APA / Herbert Neubauer

In den nächsten Tagen wird sich zeigen, was Schulen aus der "Jahrhundertchance" des "sozialen Experiments" der Schulschließungen im Frühjahr gelernt haben. Damals herrschte, der Not geschuldet, "engagiertes Chaos": Es ging in erster Linie darum, Kontakt zu den Lernenden herzustellen, die von heute auf morgen nicht mehr in der Schule waren, Aufgaben digital oder auf alternativen Wegen zuzustellen.

Ich habe im Kontext des Deutschen Schulpreises recherchiert, was erfolgreiche Schulen dazugelernt haben, und fasse die Erkenntnisse in fünf Schlüsselbereichen zusammen: Umgang mit Raum, Zeit, Beziehung, Unterricht und Digitalität sowie Well-Being.

Struktur schaffen

· Raum: Grundlage für das Gelingen sind Infrastruktur (Plattformen, Endgeräte) und Internetverbindungen. Die Gestaltung des virtuellen Raums stellt sicher, dass alle Fächer präsent sind (Organisation für Jahrgänge, Klassen und Fächer über webbasierte Standardprogramme und einfache Tools wie Padlets) und Absprachen über das virtuelle Geschehen erfolgen. Transparente Informationspolitik, zum Beispiel über eine Homepage, ist zentral, damit allen Erziehungsverantwortlichen klar ist, wo sie erforderliche Informationen finden. Bei fehlenden Deutschkenntnissen organisieren Schulen sprachliche Übersetzungen. Ein Medienteam übernimmt die Leitung, sorgt für die notwendige "Raumpflege" (Wartung und Management) und für Multiplikation.

· Zeit: Erfolgreiche Schulen schaffen eine virtuelle Tagesstruktur, um Kindern und Eltern Halt und Orientierung zu bieten. Dazu dienen digitale Wochenpläne, ein einheitliches Ordnungssystem auf der Lernplattform mit klaren Anforderungen, feste Videosprechstunden mit den Lehrpersonen, Gemeinschaftsaktionen wie digitale Kunst- und Sportchallenges, ein regelmäßiger Newsletter, Lern- und Motivationstraining per Videokonferenz, fixe Ansprechzeiten für Lehrpersonen, Unterstützungsangebote über Social Media. Je mehr Kinder und Jugendliche im Präsenzunterricht Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernehmen dürfen, etwa bei der Zeiteinteilung, umso leichter tun sie sich im virtuellen Raum.

"Im Distanzunterricht sind Aufgaben gefragt, die auf Kreativität abzielen und die aktuelle Lebenswelt einbeziehen."

· Beziehung: Eine stärkere Zusammenarbeit über regelmäßige virtuelle Sitzungen in Teams stellt die kontinuierliche Beziehung zwischen Lehrpersonen, Schülerschaft und Eltern sicher und verhindert die Gefahr des "Verlierens" einzelner Kinder. Erfolgreiche Schulen schaffen hierzu geeignete Vereinbarungen über die Kontaktnahme mit jedem einzelnen Kind, zum Beispiel zweimal pro Lehrperson und Tag für die Rückmeldung auf Leistungen und mindestens 15 Minuten pro Woche durch den Klassenvorstand. Bei schwer erreichbaren Kindern hat sich eine Teambetreuung bewährt: Ein Klassenvorstand und zwei weitere Lehrpersonen betreuen jeweils zehn Schülerinnen und Schüler durch regelmäßigen Kontakt über Videokonferenz, Telefon oder E-Mail. Kriseninterventionsteams haben sich bewährt, wie auch die Bildung von Schülerteams, die sich gegenseitig unterstützen und in Kontakt bleiben.

· Unterricht und Digitalität: Im Distanzunterricht sind Aufgaben gefragt, die auf Kreativität abzielen und die aktuelle Lebenswelt einbeziehen. Sie sollten sowohl Wahlmöglichkeiten wie gemeinsame Bearbeitung ermöglichen. Die Angebote erfolgen auf unterschiedlichen Niveaus, um Überforderung zu vermeiden. Erfolgreiche Schulen setzen auf vielseitige digitale Arbeitsprodukte, wie Vlogs, Padlets, digitale Poster oder Erklärvideos.

Eigene Mikrofortbildung

Zur Abstimmung im Kollegium wird ein pädagogisches Konzept mit verbindlichen Standards vereinbart: die einheitliche Bereitstellung der Aufgaben online (Wochenplan bis spätestens Montag acht Uhr, nach Kalenderwochen in Dateiordnern sortiert), die Berücksichtigung der Kompatibilität auf allen Endgeräten, die Gewährleistung individueller Förderung über Wahl- und Pflichtaufgaben und Feedback. Das bekommen in jedem Fach mindestens fünf Lernende in der Klasse pro Woche ausführlich, was für jedes Kind mindestens zwei detaillierte Feedbacks pro Woche ergibt.

Zur Verständigung auf eine gemeinsame Vorstellung für digitales Lernen und Hybridunterricht im Kollegium wurden eigene Formen der Mikrofortbildung durch Lehrkräfte und versierte Schülerinnen und Schüler entwickelt. Eine Schule bietet "Digi-Snacks" an, etwa "Kooperativ und kreativ arbeiten mit Padlet, AdobeSpark-Page und Prezi", "Tafelersatz One-Note, Notability, Explain Everything" oder "Brainstorming mit Flinga oder Post-it".

Positives Selbstbild

· Well-Being: Schulschließungen können bei den Kindern und Jugendlichen zu vielfältigen psychosozialen Problemen führen. Auch bei den Lehrpersonen zeigten sich Beeinträchtigungen in der Work-Life-Balance. Menschen, die die Welt verstehen und Zusammenhänge begreifen, die außerdem das Gefühl haben, etwas bewirken zu können, und darin einen Sinn sehen, bleiben eher gesund. Erfolgreiche Schulen legen auch im Distanzunterricht einen Fokus auf die Förderung eines positiven, aktiven Selbstbilds. Je stärker Kinder im Umgang mit Distanzunterricht Resilienz entwickeln können, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie disruptiven Erfahrungen, ungewohnten Herausforderungen und Uneindeutigkeiten optimistisch, mit Selbstwirksamkeit und Zuversicht begegnen.

Viele Schulen wurden von der Krise ermutigt, unkonventionelle Wege zu gehen und kreative Lösungen vor Ort zu finden. Das erforderte kluge Lösungen vor Ort, Kreativität, Problemlösen, Eigenwilligkeit und Willenskraft waren genauso gefragt wie Perspektiven und Visionen, besonders aber eine Sensibilität im Umgang mit den nicht über den herkömmlichen Unterricht erreichbaren Schüler- sowie einer besorgten und belasteten Elternschaft. (Michael Schratz, 18.11.2020)