Vier der Sustainable Development Goals der UN in Form von Logos dargestellt: saubere Energie, Erhaltung des Lebens auf dem Land und im Wasser sowie nachhaltige Städte.

Illustration: UN
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In den Ohren vieler Menschen ist Nachhaltigkeit längst zur Worthülse verkommen – als etwas, das in Werbungen vorkommt; oder als Selbstzuschreibung von Unternehmen, die sich ein "grünes Mascherl" umbinden wollen.

Der inflationäre Gebrauch soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter dem Begriff ernsthafte philosophische Überlegungen stehen. Eine Ethik der Nachhaltigkeit, die ihren Ausgang in den 1970er-Jahren hatte, führte zur Etablierung der 2015 verabschiedeten UN-Nachhaltigkeitsziele.

In 17 Punkten wurde den Staaten das Versprechen abgenommen, dafür zu sorgen, dass künftig kein Mensch mehr in Armut leben oder Hunger leiden soll. Auch Ziele im Bereich Technologie, Mobilität oder der industriellen Entwicklung sind vorgegeben.

Ziel Nummer sieben etwa lautet, dass "Zugang zu leistbarer, zuverlässiger, nachhaltiger und moderner Energie sichergestellt werden soll". Technik-Philosoph Günter Getzinger von der TU Graz erklärt, wie Nachhaltigkeit ethisch fundiert ist und wie sie in die Gesellschaft und deren Institutionen – etwa in Universitäten – Eingang findet.

STANDARD: An Technischen Universitäten muss heute auch darüber reflektiert werden, ob die stattfindende Forschung auch dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit entspricht. Wie kann man sich das vorstellen?

Günter Getzinger: Was nachhaltige Entwicklung genau ist, darüber gibt es heute weitgehenden gesellschaftlichen Konsens. Festgeschrieben ist er in den Sustainable Development Goals (SDGs), den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen. Ideen und Vorläufer reichen bis in die 1970er-Jahre zurück. Jetzt gewinnen diese Nachhaltigkeitsziele aber zunehmend an normativer Kraft, insbesondere auch für die Technologieentwicklung. Große soziotechnische Systeme wie Energie oder Mobilität werden sich nur noch in diesem normativen Kontext weiterentwickeln. Jeder Wissenschafter, jeder Technikentwickler muss sich die Frage stellen, was er oder sie zum Erreichen der Ziele beiträgt. Das ist eine relativ neue Entwicklung der letzten etwa zehn Jahre. Im neuen Entwicklungsplan der TU Graz – und in jenem vieler anderer Universitäten – spielt Nachhaltigkeit deshalb heute eine zentrale Rolle.

STANDARD: Könnte das von den Forschern nicht auch als Einschränkung gesehen werden?

Getzinger: Technik war immer auch in normative Kontexte eingebunden. Es ging etwa immer auch darum, ein Produkt zu entwickeln, das man ökonomisch verwerten kann. Schon das ist ein Beweis, dass Technik nicht neutral sein kann. Bereits der Philosoph Martin Heidegger hat darauf hingewiesen, dass man mit der Vorstellung einer neutralen Technik dem größten Missverständnis unterliegt. Technik hat eindeutig zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele beizutragen. Es geht nicht mehr nur um die ökonomische Verwertbarkeit.

STANDARD: Was machen Sie mit einem Forscher, der im Bereich von Erdölfördertechniken – sagen wir im Bereich Fracking – arbeiten will?

Getzinger: Mehrere Entwicklungen arbeiten gegen ein solches Ansinnen. Zum einen gibt es nicht mehr viele junge Forscher, die dieses Feld als zentrale Herausforderung ihres Lebens identifizieren. Das Studium der Erdölwissenschaften ist nicht mehr besonders populär. Die jungen Leute regeln das zu einem gewissen Grad mit ihrer Karriereentscheidung also selbst. Für viele Erdölunternehmen mag es beispielsweise ein Schock gewesen sein, dass gerade Fatih Birol, der Chef der Internationalen Energieagentur IEA – also jener Organisation, die in der Erdölkrise der 1970er-Jahre gegründet wurde, um die Versorgung sicherzustellen –, gesagt hat: "Solar is king!" Eher früher als später kommt das bei den Menschen an.

STANDARD: Manche junge Leute würden sich aber dennoch dafür entscheiden – schon des Geldes wegen.

Getzinger: Eine zweite Ebene, die sich dagegenstemmt, sind die Forschungsförderungseinrichtungen. Es würde mich wundern, wenn in Österreich noch Gelder im Bereich Fracking-Forschung ausgeschrieben würden. Es gab sicher auch einmal Forschung zur Qualität von Hufeisen. Auch sie ist mit dem Wegfall des Pferdes als Transportmittel ausgestorben. Eine dritte Weichenstellung geschieht zudem in der Struktur der Universitäten. An der TU Graz haben sich etwa sogenannte Fields of Expertise herausgebildet – Erdölprospektion oder fossile Energieträger gehören aber nicht dazu. Der relevante Bereich heißt Sustainable Systems. Auch in der Mobilität geht es um nachhaltigen, dekarbonisierten Verkehr.

STANDARD: Wo hatte die heutige Nachhaltigkeitsidee ihre Ursprünge?

"Was Österreichs Energiewirtschaft betrifft, bin ich optimistisch –auch wenn 20 Jahre verschlafen wurden." Technikphilosoph Günter Getziger spricht über die Flugreisen.
Foto: TU Graz / Walter Elsner

Getzinger: Ein historisch zentraler Text ist wohl Hans Jonas’ Das Prinzip Verantwortung – ein Buch, das in den 1970er-Jahren entstand, also noch bevor der Begriff Nachhaltigkeit von der norwegischen Politikerin Gro Harlem Brundtland in ihrem UN-Bericht popularisiert und politisch mächtig gemacht wurde. Jonas hat erkannt, dass unsere alte Ethik eine "Nah-Ethik" ist, die dem alten Griechenland entstammt. Dort regulierte sie die unmittelbaren – zeitlich und räumlich naheliegenden – Verhältnisse in den Städten. Jonas hat dagegen eine Ethik für die technologische Zivilisation vorgeschlagen.

STANDARD: Wie sieht diese aus?

Getzinger: Er zeigte, dass Technik uns in ihren Wirkungen vor neue Herausforderungen stellt. Sie machen eine "Fern-Ethik" notwendig, die nicht mehr nur das Individuum in seinem unmittelbaren Umfeld im Blick hat. Sie bezieht sich nicht nur auf die Familie, die Stadt oder den Staat, sondern auf den ganzen Globus und auch auf künftige Generationen von Menschen. Dabei geht allerdings die Reziprozität, die Wechselseitigkeit der Nah-Ethik, verloren. Wenn man respektvoll ist, stehen die Chancen gut, dass man auch selbst respektvoll behandelt wird. Bei einer Fern-Ethik, die künftige Generationen einschließt, bekommt man in diesem Sinne nichts zurück. Dazu kommt, dass sie keine Individualethik mehr sein kann.

STANDARD: Wie ist das gemeint?

Getzinger: Sie appelliert nicht mehr nur an den Menschen als Einzelperson, etwa wie Kants kategorischer Imperativ. Sondern sie richtet sich an Unternehmen, an politische Parteien, an Organisationen jeder Art. Hier geht es darum, wie Ethik auf einer kollektiven, politischen Ebene organisiert wird, weil dort relevante Handlungen gesetzt werden. Jonas’ Imperativ lautet: Handle so, dass die Folgen deines Handelns mit dem echten menschlichen Leben der Zukunft verträglich sind. Damit war der Nukleus gelegt, der von den UN zur Entwicklung der Nachhaltigkeitsziele aufgegriffen wurde. Sie wurden zu Appellen, die nun durch alle Verwaltungsebenen gehen. Das passiert auch gerade in Österreich.

STANDARD: Die Wirtschaft hofft auf technische, kommerzialisierbare Klimalösungen, andere predigen notwendige Verhaltensänderungen. Welche Mischung davon wird es werden?

Getzinger: Die Technik wird zur Lösung der Probleme beitragen, die teils auch technisch verursacht sind, teils aber auch durch Lebensstil
und Wirtschaftssystem entstanden sind. Kreislaufwirtschaft ist im Kapitalismus nicht angelegt. Hier sind Technologien zu entwickeln und rechtliche Rahmenbedingungen zu setzen. Es bedarf viel effizienter Energietechnik. Was Österreichs Energiewirtschaft betrifft, bin ich heute optimistisch – auch wenn die letzten 20 Jahre verschlafen wurden. In den letzten fünf Jahren mehren sich aber Anzeichen, dass die Investitionen in die richtige Richtung gehen. Wir werden aber ganz sicher nicht ohne eine Veränderung des Lebensstils auskommen.

STANDARD: Welcher Art?

Getzinger: Das beste Beispiel ist vielleicht das Fliegen. Derzeit unternimmt nur eine kleine Minderheit der Weltbevölkerung Flugreisen. Sie kommt zum großen Teil aus dem globalen Norden. Die Nachhaltigkeitsethik fordert uns aber auf, über die Globalisierung von Verhaltensweisen nachzudenken. Das Fliegen ist aber nicht globalisierbar. Wenn es alle machten, würde der Globus schnell kollabieren. Es gibt aber kein Argument, weshalb etwa ein Nigerianer, der über die nötige Kaufkraft verfügt, nicht fliegen sollte. Daraus folgt, dass wir unseren Lebensstil hier massiv verändern müssen.

STANDARD: Alles dreht sich um Reduktion von CO2-Emissionen. Macht sich die Technikfolgenabschätzung auch über andere – auf Anhieb nicht erwartbare – Folgen einer Veränderung des Energiesystems Gedanken?

Getzinger: Die Technologien werden auf mehreren Ebenen untersucht. Im chemisch-technologischen Bereich versuchen etwa Lifecycle-Bewertungen ganze Wertschöpfungsketten zu überblicken. Man denke nur an die Problematik der Konfliktmineralien wie Wolfram, Tantal und Gold, die bereits auch in die EU-Gesetzgebung Eingang fand. Natürlich ist erneuerbare Energie nicht völlig unproblematisch, auch mit ihr ist Rohstoffverbrauch verbunden – jeder kennt die Debatte zum Lithium in den Batterien. Mit dem Lösen des einen Problems schafft man ein weiteres. Es ist letztlich eine politische Bewertung, was das dringlichere und wichtigere Problem ist. Jetzt ist das der Klimawandel, dazu gibt es einen breiten Konsens. Das heißt aber nicht, dass andere Probleme übersehen werden. (Alois Pumhösel, 23.11.2020)