Die Bauforscherin und Energieexpertin Renate Hammer wünscht sich mehr Utopien im Kampf gegen den Klimawandel.

Foto: Christian Fischer

Bis jetzt hat Österreich – wie viele andere Länder auch – die in sämtlichen Klimaprotokollen festgehaltenen Emissionsziele meilenweit verfehlt. Viel Spielraum bleibt jetzt nicht mehr.

Doch die Energieexpertin Renate Hammer ist davon überzeugt: Wenn es wo gelingt, aus der Trias von Gas, Öl und Kohle auszusteigen, dann im Betrieb unserer Wohn- und Bürohäuser. Mit ihrem Forschungsinstitut, das Ministerien, Behörden, Industrie, Privatwirtschaft und internationale Organisationen berät, untersucht sie, wie wir unsere gebaute Umwelt adaptieren und den Planeten retten können.

STANDARD: Der Green Deal sieht vor, dass Österreich bis 2040 CO2-neutral werden muss. Ist das möglich?

Hammer: Im Gegensatz zum Verkehr oder zur Industrie beispielsweise, die zum Teil mit sehr hohen Temperaturen arbeitet, kommt der Gebäudebereich mit vergleichsweise geringen Energiedichten aus. Im Betreiben unserer Wohngebäude oder Büros brauchen wir selten mehr als 45 Grad Celsius für eine Niedertemperaturheizung und kaum mehr als 60 Grad Celsius für die Warmwasseraufbereitung. Und kochen tun wir mittlerweile mit Induktion. Wenn es uns hier nicht gelingt, die Ziele des Green Deal zu erreichen, dann ist uns eh nicht mehr zu helfen.

STANDARD: Aktuell werden in Österreich 142.000 Wohnungen mit Öl und 665.000 Wohnungen mit Gas betrieben. Die fossilen Brennstoffe sind noch sehr präsent in diesem Land.

Hammer: Das stimmt, aber unsere Studie "Raus aus Gas", die wir im Auftrag der MA 20 erstellt haben, stimmt mich optimistisch. Wir haben sämtliche bestehenden Gebäudeformen unter die Lupe genommen, vom Einfamilienhaus über die Wohnbauten der Sechziger- und Siebzigerjahre und die Gemeindebauten des Roten Wien bis hin zum gründerzeitlichen Gebäudebestand in der dichtverbauten Stadt. Technisch ist die Umstellung auf erneuerbare Energien immer möglich. Wir konnten keine Konstellation finden, wo Gas, Öl oder Kohle alternativlos waren.

STANDARD: Gibt es Alternativen?

Hammer: Zum Beispiel Fernwärme, Solartechnik, Biomasse oder Wärmepumpen. In Gebäuden mit mehreren Wohneinheiten kann man im Keller oder auf dem Dach eine zentrale Wärmepumpe installieren, von der aus die Energie direkt in die Wohnungen weiterverteilt wird – idealerweise über die Kaminstränge, die dann ja nicht mehr benötigt werden. Man kann aber auch wohnungsweise umstellen, etwa mit Kleinstwärmepumpen, die der klassischen Gastherme optisch nicht unähnlich sind – was den Umstieg in gewisser Weise psychologisch erleichtert.

STANDARD: Welchen Stellenwert hat Geothermie?

Hammer: Geothermie zur Energiebereitstellung zu nutzen ist sinnvoll und zumeist auch machbar, aber mit erhöhtem technischem Aufwand verbunden. In vielen Häusern in dichtverbauten Gebieten kann man schwer in die Tiefe bohren – weil Tiefgarage, weil Abwasserkanal, weil U-Bahn-Schacht. Eine denkbare Alternative ist, diagonal dorthin zu bohren, wo grad kein Hindernis im Weg ist. Im Stadtentwicklungsgebiet Eurogate II im dritten Bezirk soll nun erstmals eine öffentliche Grünfläche für Geothermie genutzt werden. Das alles wirft allerdings Fragen sozialer und rechtlicher Natur auf, die im Rahmen des Green Deal diskutiert werden.

STANDARD: Die Handlungsspielräume in Bezug auf den Green Deal liegen nicht nur im Gebäudebereich, sondern auch auf städtebaulicher Ebene.

Hammer: Es geht darum, die zunehmend extremen klimatischen Bedingungen in der Stadt in den Griff zu bekommen. Im September hat die Stadt Wien eine neue Klimaanalysekarte vorgestellt, die sowohl die Urban-Heat-Islands definiert als auch die wichtigen Kaltluftschneisen ausweist, die zur natürlichen Kühlung genützt werden können. Die Karte ist sehr fein gerastert und bietet sehr detaillierte Informationen. Weitere Themen für die kommenden Jahre sind flexible Beschattung, die Entsiegelung von Straßen, Gassen und Plätzen sowie ein Neudenken von Natur in der Stadt – durch Bepflanzungen und Wasser.

STANDARD: Wasser ist ein gutes Kühlmedium mit einer hohen Wärmekapazität. Welche Rolle könnte es in der Stadtplanung spielen?

Hammer: Eine wichtige! Fließgewässer liefern kühle Massen ins städtische Gefüge. Verdunstungskälte, Begleitgrün und nicht zuletzt die Möglichkeit, an einem heißen Sommertag die Füße hineinzuhalten, zeigen deutliche Wirkung. Es gibt in Wien eine Vielzahl an Wienerwald-Bächen, deren ursprüngliche Verläufe durch dichtverbaute Gebiete führen. Wir befassen uns gerade mit der Frage, ob und wie die natürlichen Kühlpotenziale der ehemaligen Bäche als "nature-based solutions" für die Stadt wieder nutzbar gemacht werden können.

STANDARD: Gibt es ein Beispiel?

Hammer: Unser Institut liegt am Tiefen Graben in der Wiener Innenstadt. Genau hier verläuft das ursprüngliche Bett des Ottakringer Bachs, was sich stadtmorphologisch noch sehr gut nachvollziehen lässt. Eine wesentliche Forschungsfrage für uns ist, welche klimatischen und stadträumlichen Vorteile sich aus einer Reaktivierung und Reintegration von Bachläufen für das urbane Mikroklima ergeben könnten. Eine Kombination mit dem Schwammstadtprinzip wäre sinnvoll.

STANDARD: Eines Tages könnte ein Bach durch die Innenstadt fließen?

Hammer: Warum nicht! Eine Renaturierung und damit völlige Umgestaltung von versiegelten Straßen klingt exotisch, aber wenn man sich den Cheonggyecheon-Kanal in Seoul oder die Wiederherstellung des Zhangjiagang in Suzhou, China, anschaut, wird man feststellen, wie viel Lebensqualität so entsteht.

STANDARD: Ins Hotel Orient wird man künftig mit der Gondel fahren?

Hammer: Das wäre doch romantisch! Wir brauchen Utopien.

STANDARD: Welchen Zeithorizont gibt es?

Hammer: Mit einem erfolgreichen Pilotprojekt kann es schnell gehen. Ich nenne als Beispiel gern den Liesingbach. Die erfolgreiche Renaturierung eines Teilabschnitts hat zur Folge gehabt, dass aus einem ehemals wenig attraktiven, kanalähnlichen Gerinne heute ein belebter Erholungsraum geworden ist.

STANDARD: Was sind die drei wichtigsten politischen Handlungen in Hinsicht auf den Green Deal?

Hammer: Erstens: ein konsequenter Ausstieg aus der fossilen Abhängigkeit. Zweitens: eine Kostenwahrheitsverordnung für lokale und regionale Ressourcen. Mangos aus Übersee und chinesischen Marmor soll man nicht verbieten, aber sie müssen real und sozial gerecht bepreist und damit teurer sein als österreichische Birnen und heimischer Granit. Und drittens: ein Flächenverbrauchsnettonullgesetz. Das heißt: Jede Fläche, die wir heute neu in Anspruch nehmen, muss an anderer Stelle in gleichem Ausmaß wieder entsiegelt und renaturiert werden. (Wojciech Czaja, 23.11.2020)