Das Balthasar hat schon vor dem "leichten" Lockdown geschlossen. Die Betreiber, so ein Zettel an der Tür, nähmen die Gesundheit von Kundschaft und Personal ernst – also sperre man die hippe Hütte zu. Für die Stammklientel des Espressonahversorgers auf der Praterstraße ein Schlag: Im Balthasar treffen sich Office-Menschen des Bobo-Grätzels um den Nestroyplatz. Studierende nutzen es als Lernstube. Mütter und Väter kommen nach dem Abwurf der Kinder im Kindergarten vorbei. Oft nur, um den Cappuccino aus dem Pappbecher dann auf dem Heimweg zu trinken: "To go", sagt man auf Neusprech. Balthasars gibt es viele.

Was in den Tagen des "leichten" Lockdowns ins Auge stach: Obwohl das Lokal zu war, war die Klientel da. Zum Teil zumindest. Man trank seinen Kaffee im Umland. Sitzend, auf den Parkbänken an der Straße. Lehnend, an Mauern und Geschäftseingängen. Halbsitzend, auf Fahrradständern oder Schanigartentischen, die Wirte benachbarter Lokale nur zusammengerückt hatten.

Wenn die Kaffeehäuser geschlossen haben, wird der öffentliche Raum in Wien zum "safen" Freiluftcafé. "Gemma auf an Latte", immer mit Abstand.
Foto: Philipp Lipiarski

Woher der Kaffee kam? Rund ums Balthasar gibt es Bäckereifilialen und Supermärkte. Der Über-die Gasse-Verkauf im Pappbecher ist erlaubt. Das bleibt es auch jetzt, im "harten" Lockdown. So wie Spazierengehen. Und Kaffee ist in der Kaffeehausstadt Wien unbestritten lebenswichtig. Emotional, mental und überhaupt. Quasi ein Grundfaktor der psychischen Stabilität eines Großteils der Bevölkerung.

Was flapsig klingt, hat einen handfesten Hintergrund: Als die 2.300 Kaffeehäuser der selbsternannten Kaffee-Welthauptstadt Wien schlossen, explodierte das "To go"-Geschäft. Nicht nur Bäckereien, Supermärkte, McDonald’s & Co schalteten ihre Kaffeemaschinen auf Dauerbetrieb, auch rein auf den "To go"-Markt fokussierte Anbieter schoben Extraschichten – und wurden von Kundenkreisen schätzen gelernt, die die seit dem Markteintritt von Starbucks vor zwölf Jahren auch in Wien omnipräsente Pappbecherkultur bis jetzt ignoriert hatten.

iPad und Latte im Park

Die Baristas (vulgo: Kaffeeköche), die im Wiener Stadtpark vor dem Johann-Strauß-Denkmal das "Espressmobil" betreuen, erzählen von soignierten Innenstadt-Anwälten und Geschäftsleuten, die sich nun statt ins Landtmann mit "Latte" und iPad auf die Bank setzen. Und wenn Espressomobil-Geschäftsführer Reinhold Lindmoser behauptet, dass "das derzeit schönste Kaffeehaus Wiens" im Lockdown nicht nur für Biz-Meetings und Hintergrundtreffen zwischen Politikern und Journalisten genutzt wird, sondern auch als Tinder-Treffpunkt längst eine fixe Größe in der Stadt sei, klingt das plausibel: "Gemma auf an Kaffee" hat eine neue Bedeutung.

Nicht nur beim Walzer-Schani: Auf der anderen Seite des Wienflusses betreibt Lindmosers 2012 gegründetes Wiener Unternehmen sein zweites Stadtpark-Outlet. Sperrte man dort, beim Spielplatz, früher erst am Nachmittag auf, geht es nun schon am Vormittag los. Solange Eltern und Kinder hier sind, haben die Baristas alle Hände voll zu tun.

Fun-Fact: Männer wählen beim "To go" eher Espressi, Frauen meistens "Milchgetränke". Das Geschäft boomt zwar, Krisengewinner sind die mobilen Baristas aber nicht. Es fehlen Events und Messen.
Foto: thomas rottenberg

Gegenderter Koffeinkonsum

"Die Leute halten Abstand, tragen Maske", betont Co-Geschäftsführer Moritz Fleissinger, "und verstehen, dass es dauert, wenn wir nach jedem Kunden putzen und desinfizieren." An anderen Espressomobil-Standorten – etwa dem DC Tower – ist das Publikum zwar ein anderes, das Bild aber gleich: Der öffentliche Raum wird zum "safen" Freiluftcafé. Lindmoser wagt sich an eine Kaffee-Wetter-Gender-Auswertung: Männer trinken eher Espresso und Doppio, Frauen "Milchgetränke". An wärmeren Tagen gehen Kurz & Schwarz besser, wird es kälter, hält man sich lieber länger am warmen Becher fest. In Summe ergibt das einen Gesamtsieger: Cappuccino.

Dass "To go" Lockdown-Städte koffeinisiert, bestätigt auch Carla Verlage vom deutschen Mobilkaffeevertreiber Coffee Bike. Das Konzept ähnelt den Wiener Mopeds, allerdings setzt das 2010 in Osnabrück gegründete Unternehmer auf Lastenfahrräder und Franchising. Weltweit machen 250, in Deutschland 180 und in Wien fünf Rad-Cafés Espresso: zwei allein beim Karlsplatz, eines auf der Mariahilfer Straße.

Auch wenn der urbane To-go-Bereich boomt, sind weder die Moped- noch Fahrradbaristas "Corona-Gewinner". Das Hauptgeschäft, sagt Espressomobil-Mann Lindmoser, machen seine 20 Wiener Piaggios nämlich bei Events oder Messen. Da entfielen heuer schon 2.000 Einsatztage, ein Umsatzrückgang von 70 Prozent. Statt 40 (Teilzeit-)Baristas beschäftige man jetzt nur 20.

Kaffee mit Bezugsperson

Auch im "harten" Lockdown bleibt das Kaffeeabholen zwischen 9 und 19 Uhr erlaubt. Am "Abholerpassus", bestätigen Juristen, ändere sich für Verschleißer nur eines: Zwischen Kauf- und Konsumationsort müssen nun 50 Meter Abstand liegen. Bei wortgetreuer Auslegung könnte das zu skurrilen Situationen führen: Da könnten Kunden der Knockbox, eines Takeaway-Kaffeekiosks am Karlsplatz, ihren Kaffee neben der nahegelegenen Mann-Filiale schlürfen – und Mann-Kaffee-Trinker bei der Knockbox. Wobei das so eh nicht stattfindet: Ums Eck von Knockbox und Mann liegt das Heuer. Das ist zu, der Gastgarten aber zugänglich. Und jetzt sitzen da oft Pappbechertrinker. Alleine – oder mit "Bezugsperson". Denn dass Luftschnappen zur Erhaltung der psychischen Gesundheit in Bewegung und ohne Heißgetränke stattzufinden hat, steht nirgendwo.

Dennoch wurde "To-go-Verweilen" schon beim ersten Lockdown geahndet, erinnert sich Wolfgang Binder. Laut dem Präsidenten des Klubs der Wiener Kaffeesieder und Cafetier-Wirtschaftskammerobmann wurden Gastronomen angezeigt, weil Passanten in – de jure mit Betretungsverboten belegten – Schanigärten geschlossener Lokale saßen. Juristen bezweifeln, dass die Verantwortung eines Wirtes für Vorgänge in seinem geschlossenen Garten vor Gericht Bestand hätte.

Tatsächlich sind gekaperte Schanigärten aber Binders geringste Sorge. Auch dass die Wienerinnen und Wiener nach der "To go"-Zeit nicht in die Kaffeehäuser zurückkehren könnten, glaubt der Betreiber des Café Frauenhuber nicht: "Die Wiener sind gemütlich. Sie wollen sitzen." Binder fragt sich, wo sie nach Corona wohl sitzen werden: "Bis zu 30 Prozent der Kaffeehäuser könnten nicht überleben. Und das liegt nicht an den Pappbechern." (Tom Rottenberg, 19.11.2020)