Viermal stand die schottische Autorin Ali Smith schon auf der Shortlist für den renommierten Booker Prize. Zuletzt mit dem ersten Band der Jahreszeitenserie. Jedes der vier Bücher verfasste sie binnen eines Jahres.

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Was die Kunst von der Politik unterscheide, fragt Arthur am Ende des Buches Winter von Ali Smith seine Mutter Sophia und seine Tante Iris. Letztere mailt ihm zurück, "dass das MENSCHLICHE in der Kunst immer zum Vorschein kommt, ganz gleich wie sie politisch ausgerichtet ist". Tatsächlich halten sich im Roman der Schottin (58) Menschliches und Politisches kunstvoll die Waage.

Winter ist der zweite Teil der nach den Jahreszeiten benannten Romanserie, in denen Smith seit 2016 versucht, die jeweilige Zeit zwischen Brexit, Flüchtlingskrise, Klimawandel und Corona-Krise festzuhalten. Auf Englisch ist vor wenigen Wochen mit Summer bereits der Abschluss erschienen, auf Deutsch hinkt man nach. Im Original 2017 herausgekommen, klingt Winter trotzdem auch heute hochaktuell.

In jedem der Bände wechselt das Personal. Im Zentrum von Winter steht der kurz Art genannte Arthur. Beruflich kontrolliert der Mittdreißiger für einen Medienkonzern Urheberrechtsverstöße in Youtube-Videos, aber sein Herz gehört dem Nature Writing. Im Moment arbeitet er an einem Blogbeitrag über Schnee, als seine Freundin Charlotte ihm vorwirft, dass er dabei vollkommen unpolitisch sei: Eisschmelze? Klimawandel? Er muss sich also eine neue Begleitung suchen, um über Weihnachten zu seiner Mutter nach Cornwall zu fahren. Dazu liest Art an einer Bushaltestelle eine Frau auf, die sich als Charlotte ausgeben soll.

Umweltaktivistin vs. Dekoverkäuferin

Als er und Lux bei seiner Mutter ankommen, sitzt diese bei offener Tür in ihrem Haus und wirkt verwirrt. Sie wissen sich nicht anders zu helfen, als ihre Schwester zu Hilfe zu rufen. Die Frauen haben seit 30 Jahren nicht mehr miteinander gesprochen, denn unterschiedlicher könnten sie nicht sein: Tante Iris ist seit je Umweltaktivistin, Atomwaffen- und Pestizidgegnerin, Mutter Sophia war einst Geschäftsfrau mit einer Kette für Dekogegenstände.

Was sich nun entwickelt, ist eine unaufgeregt erzählte Geschichte, wie sie sich gerne auch in Filmen bei Familienfestszenen entspinnt, wenn Menschen, die einander sonst nicht oft begegnen, plötzlich aufeinanderhocken: Es ist zwar etwas unangenehm, doch zwangs- und beiläufig entstehen aus dem Zusammensein Gespräche, kochen alte Geschichten hoch, wird in Erinnerungen geschwelgt und werden diese wechselweise auf ihre Stichhaltigkeit überprüft, Konflikte aufgewärmt oder geklärt. Unterlegt von einem sehr warmen Grundton, entstehen Momente unerwarteter Intimität.

Zärtlichkeit und Politik

Schlimmes wird mit Schönem kontrastiert, Wunden mit Zärtlichkeit. Quasi als Gegengewicht zur Politik ruft Smith zudem Filme von Elvis, die Komik von Charlie Chaplin und den Zauber von Kunst auf.

So schnörkellos und klar wie Smiths Sätze, so unumwunden direkt streut sie auch die großen politischen Entwicklungen ein: ein US-Präsident Donald Trump, die ideologische Spaltung des Landes und die schwierige Situation von Ausländern nach dem Brexit in Großbritannien, die Flüchtlingskrise an den Rändern der Europäischen Union, das Plastik in den Meeren.

Es ist nicht Smiths Ziel, die Themen endgültig auszudiskutieren, eher bezieht sie ihre Standpunkte. Damit sie das alles unterbringt, ohne aufwendige erzähltechnische Schleifen binden zu müssen, behilft sich Smith mit pointierten Streitgesprächen und wie hingetupft wirkenden kurzen Einschüben mit etwa dem Bildschirm in der U-Bahn-Station, über den tagesaktuelle Meldungen flimmern. Das erinnert sehr ans echte Leben und gibt den etwas über 300 Seiten eine entspannte Lockerheit.

Flirrende Gegenwart

So entsteht ein Porträt unserer Zeit. Mindestens so interessant wie als politischer Diskursbeitrag ist das Buch aber in seinem Verhältnis von Erzähltem und Erzählen, weil sich daran Fragen knüpfen wie: Was heißt es, seiner Zeit literarisch den Puls zu fühlen? Was ist ein zeitgenössischer Roman? Wie nah darf oder muss er der Gegenwart in konkreten Ereignissen kommen? Wie lang ist dann seine Halbwertszeit?

Jedenfalls noch ein Weilchen! Zu den lustigsten Passagen gehört jene, in der an einem Morgen ein Bus mit Vogelkundlern auf dem Grundstück hält. Smith reflektiert darin die Bedeutung, Macht und Tücken sozialer Netzwerke in unserem Alltag: Denn die Busreisenden sind nach Cornwall gekommen, weil sie Arts Tweet über einen Vogel gelesen haben, der hier eigentlich nicht heimisch sei, aber den er erstmals gesichtet haben will. Nur Art weiß, dass der Post eine Racheaktion seiner Exfreundin ist, die unter seinem Namen Nonsensbeiträge twittert.

Jedes der Bücher ist in kurzer Zeit entstanden, was aber nicht heißt, dass sie schlampig gearbeitet wären. Sondern dass sie flirrende Unmittelbarkeit letzten Antworten vorziehen. (Michael Wurmitzer, 19.11.2020)