Eva Glawischnig hat gegen Facebook vor dem EuGH und nun auch dem OGH gesiegt. Für die Meinungsfreiheit ist es eine schlechte Entwicklung.

Illustration: Marie Jecel

Die Entscheidung hatte für Aufsehen gesorgt: Im Oktober 2019 hatte der Europäische Gerichtshof in der Sache Glawischnig-Piesczek vs. Facebook entschieden, dass insbesondere Social-Media-Provider dazu verpflichtet werden können, nicht nur konkrete beleidigende Äußerungen, sondern auch sinngleiche Äußerungen weltweit zu löschen.

Voraussetzung sei allerdings, dass eine automatisierte Beurteilung der Sinngleichheit möglich ist (C-18/18). Dass Provider keine manuelle ("autonome") Prüfung vornehmen müssen, folgt insbesondere aus dem unionsrechtlichen Verbot, Providern allgemeine Überwachungspflichten aufzuerlegen.

OGH geht noch weiter als EuGH

In seiner vergangene Woche in derselben Sache veröffentlichten Entscheidung geht der Oberste Gerichtshof sogar noch einen Schritt weiter. In augenscheinlichem Widerspruch zur Entscheidung des EuGH versteht der OGH unter unzulässigen "sinngleichen" Inhalten nicht nur solche, deren Übereinstimmung durch technische Mittel festgestellt werden kann, sondern auch solche, bei denen sich eine Übereinstimmung auf den ersten laienhaften Blick ergibt (6 Ob 195/19y).

Beide Entscheidungen sind in mehrerlei Hinsicht kritikwürdig bzw. zu relativieren. Erstens haben sich die Gerichte nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob es überhaupt technische Mittel, z. B. Filtersoftware, gibt, die "sinngleiche" rechtswidrige Inhalte verlässlich erkennen kann. Tatsächlich gibt es derartige Software nicht – und kann es auch nicht geben.

Unterschiedliche sprachliche Formulierungen sind in ihrer Bedeutung nie zu 100 Prozent deckungsgleich. Gleichzeitig zeigt die Judikatur, dass sich Gerichte – sogar der OGH und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – regelmäßig uneins sind über die exakten Grenzen zulässiger Meinungsäußerung.

Nadel im Heuhaufen

Zweitens haben es sowohl der EuGH als auch der OGH gänzlich verabsäumt, sich mit dem Phänomen des "Overblockings" und damit dem Grundrecht auf Informations- und Meinungsäußerungsfreiheit zu befassen. Eine jede Verfügung, die einen Provider dazu verpflichtet, "sinngleiche" Inhalte zu löschen, wird in ihrer Umsetzung vor allem zur Löschung rechtmäßiger Inhalte führen.

Dies deshalb, weil es sich um ein Nadel-im-Heuhaufen-Problem handelt: Die Menge der rechtmäßigen Inhalte übersteigt die Menge der rechtswidrigen Inhalte um viele Zehnerpotenzen, selbst bei einer aus heutiger Sicht unerreichbaren Genauigkeit von 99,9 Prozent würden damit noch immer viel mehr rechtmäßige als rechtswidrige Inhalte gelöscht werden.

Tatsachenbehauptungen

Drittens erzeugt das Urteil große Fragezeichen rund um Tatsachenbehauptungen. In der Sache Glawischnig-Piesczek vs. Facebook ging es um beleidigende Äußerungen, die per se rechtswidrig sind ("miese Volksverräterin", "korrupter Trampel"). Deutlich problematischer wird es bei der Kreditschädigung: Tatsachenbehauptungen, die den Kredit, den Erwerb oder das Fortkommen eines anderen gefährden, sind nämlich grundsätzlich nur dann rechtswidrig, wenn sie unwahr sind.

Die Unwahrheit und damit Rechtswidrigkeit einer Tatsachenbehauptung (z.B. "Das Unternehmen XY bietet ein schlechtes Preis-Leistungs-Verhältnis") lässt sich logischerweise nur für die Vergangenheit beweisen. Eine Unterlassungsverpflichtung gemäß der OGH-Entscheidung würde es künftig faktisch unmöglich machen, gewisse Tatsachenbehauptungen online zu äußern, selbst wenn diese inzwischen wahr geworden sind. Als sinngleich identifizierte Tatsachenbehauptungen müssten nämlich noch vor Veröffentlichung zensiert werden.

Zensur oder nicht?

Ob es sich um Zensur im Rechtssinne handelt, ist diskussionswürdig. In Österreich ist jegliche Form der Zensur nach dem Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918 verfassungsrechtlich untersagt. Allgemein wird unter Zensur die staatliche, vor Veröffentlichung erfolgende Kontrolle von Inhalten verstanden. Dass der Staat das Zensurverbot nicht dadurch umgehen kann, dass er Private zur Kontrolle der Inhalte verpflichtet, ist anerkannt.

Ob auch Gerichte dem Zensurverbot unterliegen, ist hingegen umstritten, sollte jedoch richtigerweise bejaht werden, weil ansonsten das Zensurverbot durch eine Verschiebung der Zuständigkeit zwischen Verwaltungsbehörden und Gerichten allzu leicht umgangen werden könnte.

Urteil hilft Autokraten

Weil der OGH das Bestehen eines weltweiten Löschanspruchs zu bejahen scheint, hat die letztwöchige Entscheidung des OGH auch international bereits für viel Diskussion gesorgt. So sehr eine weltweite Löschung aus Betroffenensicht zu befürworten ist, sollte dennoch berücksichtigt werden, dass die globale Anwendung österreichischen Rechts von anderen Staaten als Freibrief aufgefasst würde, auch ihr nationales Recht global anzuwenden.

Da es sich bei Social-Media-Providern um global tätige Unternehmen handelt, die grundsätzlich die rechtlichen Anforderungen jedes Staates erfüllen müssen, führt eine weltweite Geltung bei Fragen der Informations- und Meinungsäußerungsfreiheit zum kleinsten gemeinsamen Nenner – nur jene Inhalte, die in allen Staaten rechtmäßig sind, können veröffentlicht und gelesen werden.

Es muss lokal bleiben

Von einem Autokraten, der Korruptionsvorwürfe unterbinden will, bis zu einem Monarchen, der jegliche Kritik an seiner Person als Majestätsbeleidigung per Gesetz verbieten lässt, sind viele problematische Fälle international Realität. Diesem Effekt des kleinsten gemeinsamen Nenners lässt sich nur entgegenwirken, wenn jeder Staat auf die ausschließlich lokale Anwendung der jeweils lokalen Standards der Informations- und Meinungsäußerungsfreiheit besteht.

Aus gegebenen Anlass: Das Thema "Staat vs. Internet – Das Ende von Hass im Netz?" wird am Donnerstag bei einem Online-Symposium von IT-Law.at heiß diskutiert. (Lukas Feiler, 19.11.2020)