Psychologin Caroline Culen fordert mehr Angebote für Kinderschutz.

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Wir sind durch die Krise resilienter geworden. Die Bevölkerung hat überraschend gut mitgearbeitet, bürokratische Prozesse wurden optimiert, die medizinische Versorgung bleibt aufrecht. Es scheint, als hätten alle aus den Fehlern und Versäumnissen im Frühjahr gelernt.

Nach den erneuten Schulschließungen warnen Expertinnen und Experten der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit nun aber vor den langfristigen Folgen für die nächste Generation. Der jährliche Lagebericht wurde am Mittwoch präsentiert.

Massive Diskrepanzen

"Der zweite Lockdown wird uns zwar nicht mehr aus dem Gleichgewicht bringen, die Ungleichheiten bei Kindern und Jugendlichen aber weiter verschärfen", erklärt Hedwig Wölfl, Vizepräsidentin der Kinderliga und Geschäftsführerin der Kinderschutzorganisation Möwe. Bereits vor der Krise gab es massive Diskrepanzen bezüglich Gesundheitsrisiken und Bildungschancen, also letztlich der Lebensqualität, sagt Christoph Hackspiel, Präsident der Liga. Mangelnde Bildungschancen, die mit dem sozioökonomischen Status der Eltern korrelieren, sind in Österreich besonders gravierend. Gewalterfahrungen, psychische Leiden, geringe Bildungsmöglichkeiten und Armut bedeuten verminderte Teilhabechancen und sind oft die Ursache für chronische körperliche und psychische Krankheiten, heißt es.

Für Caroline Culen, Psychologin und Geschäftsführerin der Liga, deshalb auch höchste Zeit, Angebote für psychologische und psychotherapeutische Versorgung zu verstärken und für alle leistbar und wohnortnah verfügbar zu machen. "Wir müssen, nachhaltige Strategien verfolgen und nicht nur reagieren, sondern gestalten", so Culen. Denn Gesundheit sei keine individuelle Entscheidung. "Gesundheit darf nicht als Leistung des einzelnen Menschen gesehen werden, sondern als das Ergebnis sozialer Verhältnisse. Gesundheit hängt auch von den grundlegenden Werten einer Gesellschaft ab", sagt die Expertin. Seitens der politisch Verantwortlichen gebe es dringenden Handlungsbedarf. "Wir müssen die Weichen in Österreich neu stellen", betont Culen.

Was Kindern fehlt

Internationale Umfragen und Rückmeldungen von Mitgliedsorganisationen nach dem ersten Lockdown untermauern die Forderungen und zeigen, dass Kinder und Jugendliche vor allem unter den Kontaktbeschränkungen gelitten haben. Der Austausch mit ihren Schulkollegen und Freunden, aber auch mit den Großeltern wird jetzt aufs Neue für Wochen unterbrochen. Besonders Kinder aus bildungsärmeren Schichten verlieren so oft den schulischen Anschluss. Jugendliche wiederum erhalten nur mehr schwer Lehrstellen. Gewalt in Familien und psychische Probleme steigen deutlich an, und fast alle medizinischen und therapeutischen Angebote, vor allem für Kinder mit Beeinträchtigungen, sind seit Monaten nur noch schwer zugänglich. "Corona zeigt uns eine seit vielen Jahren triste Situation für etwa 25 Prozent unserer Kinder. Das sind jene, die in Armut oder Armutsgefährdung leben und dadurch eingeschränkte Entwicklungsmöglichkeiten haben", so Hackspiel. Ihre Talente und Ressourcen würden so deutlich zu wenig gefördert werden.

Die Wirtschaft erhalte hingegen Milliarden an Förderungen und Entschädigungen. "Eine Milliarde mehr für spezifische Anliegen der Prävention für Kinder und Jugendliche wäre ein Klacks", betont Hackspiel. Er plädiert für die Einführung eines Ministeriums für Kinder, die immerhin ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Damit würde man "ein politisches Zeichen setzen" und "Minderjährige in den Fokus rücken". Gerade in dieser belastenden Krise müsse bei politischen Entscheidungen und bei Investitionen zur Schadensbegrenzung das Interesse von Kindern im Zentrum stehen.

Wenn Sorgen belasten

Christina Ortner von der Fachhochschule Hagenberg präsentierte im Zuge des Lageberichts die im Frühjahr 2020 durchgeführte Studie "Kinder, Covid-19, Medien". Die Ergebnisse gewähren Einblicke in die Situation von Kindern im Lockdown. Weltweit haben insgesamt 4.322 Kinder aus 42 Ländern teilgenommen – 149 davon aus Österreich. "Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Kinder mit niedrigem sozioökonomischem Status in der Stichprobe unterrepräsentiert waren", sagt Ortner.

Die Ergebnisse zeigen, dass Kinder hierzulande im Frühjahr nur bedingt eine gesundheitliche Bedrohung wahrgenommen haben. Anders als in anderen Ländern gaben lediglich zwei Prozent der Kleinen an, deshalb sehr beunruhigt zu sein. Außerdem hatten Kinder weniger Angst davor, selbst an Covid-19 zu erkranken, sondern waren um Familie, Freunde oder ihre Haustiere umso besorgter. Digitale Medien wurden indes stark genutzt, um Kontakte nach außen aufrechtzuerhalten. Eltern und Geschwistern haben sich dabei als wichtige Ressource erwiesen. Auch wenn Kinder im Rahmen der Studie vereinzelt Spannungen in der Familie erwähnten, denen sie nur schwer ausweichen konnten. (Julia Palmai, 18.11.2020)